Urteilsanalyse
OLG Karlsruhe entscheidet zu den Voraussetzungen des Beschlusses nach § 522 II 1 ZPO
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Der Zurückweisung einer Berufung gem. § 522 II 1 ZPO stehen nach einem Beschluss des OLG Karlsruhe vom 15.04.2020 weder die vorherige Verfügung einer mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden noch ein erheblicher Zeitablauf zwischen dem letzten Eingang eines Berufungsschriftsatzes und dem Hinweisbeschluss noch ein Richterwechsel entgegen.

10. Aug 2020

Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 15/2020 vom 24.07.2020

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Sachverhalt

Die Berufung geht beim Berufungsgericht am 18.1.2019 ein, die Berufungserwiderung am 28.2.2019. Der Vorsitzende des Berufungsgerichts beraumt für 2020 einen Termin an. Am 26.2.2020 weist das Berufungsgericht den Berufungskläger nach § 522 II 2 ZPO darauf hin, die Berufung sei offensichtlich unbegründet und solle nach § 522 II 1 ZPO zurückgewiesen werden. In seiner Stellungnahme meint der Berufungskläger, die Voraussetzungen einer Entscheidung nach § 522 II 1 ZPO lägen nicht vor. Erstens habe der Vorsitzende des Berufungsgerichts bereits einen Termin anberaumt. Zweitens wäre der Beschluss nicht mehr „unverzüglich“ iSv § 522 II 1 ZPO. Und drittens habe sich die Besetzung des Berufungsgerichts geändert.

Entscheidung: Die Voraussetzungen einer Entscheidung nach § 522 II 1 ZPO liegen vor!

Der Umstand, dass der Senatsvorsitzende bereits eine mündliche Verhandlung verfügt hatte, stehe der Zurückweisung nicht entgegen (Hinweis auf BVerfG NJW 2011, 3356 Rn. 14). Auch der Zeitablauf zwischen Eingang der Berufungserwiderung und Hinweisbeschluss nach § 522 II 2 ZPO stehe der Zurückweisung nach § 522 II 1 ZPO nicht entgegen. Denn die Zurückweisungsentscheidung sei nicht an eine bestimmte Frist gebunden. Schließlich sei es im Hinblick auf Art. 101 II 2 GG unbedenklich, wenn das Verfahren gem. § 522 II ZPO – etwa wie hier aufgrund eines Vertretungsfalles – in wechselnder Senatsbesetzung durchgeführt werde (Hinweis auf BVerfG NJW 2004, 3696). Zur Klarstellung werde im Übrigen mitgeteilt, dass der Hauptverhandlungstermin nach vorangegangener Senatsberatung, die – „entsprechend der ständigen Praxis des erkennenden Senats“ – erst zeitnah vor dem anberaumten Termin stattgefunden habe, aufgrund sachlicher Erwägungen aufgehoben worden sei. Der Anlass sei nicht – wie der Kläger aber meine – eine Presseanfrage gewesen.

Praxishinweis

Unverzüglichkeit iSv § 522 II ZPO

Über eine Zurückweisung ist „unverzüglich“ zu entscheiden. Da der Zurückweisungsbeschluss urteilsvertretende Wirkung hat, ist das Merkmal „unverzüglich“ ebenso wie der Begriff der Entscheidungsreife in § 300 I ZPO zu verstehen (MüKoZPO/Rimmelspacher, 5. Aufl. 2016, § 522 Rn. 31). Die Anordnung der Unverzüglichkeit dient vorrangig dem Interesse des in der ersten Instanz obsiegenden Berufungsbeklagten (BVerfG NJW 2011, 3356 Rn. 8; BVerfG NJW 2004, 3696 unter II. 1). Eine absolute zeitliche Grenze, nach deren Überschreitung ein Beschluss nach § 522 II ZPO unzulässig würde, stellt das Merkmal allerdings nicht dar (Vossler MDR 2008, 722 [723]). Das Berufungsgericht kann daher auch dann nach § 522 II 1 ZPO vorgehen, wenn bereits eine Berufungserwiderung des Gegners vorliegt. In bestimmten Fällen ist eine solche Erwiderung sogar unverzichtbar (Vossler MDR 2008, 722 [723]), vor allem, wenn mit der Berufungsbegründung neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorgebracht wurden. 

Richterwechsel zwischen Hinweis- und Endbeschluss

Der Wechsel eines beisitzenden Richters zwischen dem Hinweis gem. § 522 II 2 ZPO und der Zurückweisung der Berufung nach § 522 II 1 ZPO verletzt nicht Art. 101 I 2 GG (BVerfG NJW 2004, 3696 unter II. 2). Dies ergibt sich schon daraus, dass der Hinweis nach § 522 II 2 ZPO auch als Verfügung allein des Vorsitzenden ergehen kann.

Länge der Stellungnahmefrist für den Berufungskläger

Will das Berufungsgericht nach § 522 II 1 ZPO verfahren, hat das Berufungsgericht oder – wie ausgeführt – der Vorsitzende nach § 522 II 2 ZPO zuvor auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Frist ist so zu bemessen, dass dem Berufungsführer ausreichend Zeit für die anheimgegebene Stellungnahme verbleibt. Im Hinblick darauf, dass einerseits dem Berufungsführer bereits die Begründungsfrist zur Verfügung stand und andererseits das Gericht zu einer unverzüglichen Entscheidung gehalten ist, ist in der Praxis in Anlehnung an § 277 III ZPO eine 2-Wochen-Frist üblich (OLG Dresden BeckRS 2018, 5128; Fellner MDR 2017, 435), aber nicht zwingend. Auf Antrag kann die Frist verlängert werden. Dieser Antrag hat Erfolg, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind (§ 224 II ZPO). Hier sollten die Berufungsgerichte nicht streng sein (Elzer FD-ZVR 2018, 405191): Es gibt keinen Grund für eine „Überbeschleunigung“ (aA OLG Dresden BeckRS 2018, 5128: Fristverlängerungen sind auf absolute Ausnahmefälle beschränkt, weil sie in der ersten Fristsetzung bereits berücksichtigt sind). 

Begründungswechsel in den Instanzen

Das Berufungsgericht ist nach hM berechtigt, von der Begründung der angefochtenen Entscheidung abzuschwenken (exemplarisch KG BeckRS 2019, 36788 Rn. 19). Abweichend von dem, was der Begründung in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drs. 17/6406) zu entnehmen sein könnte, erfordere der bloße Wechsel der Begründung keine mündliche Berufungsverhandlung. Nach der Funktion des Verfahrens nach § 522 II ZPO sei eine erneute mündliche Verhandlung nur dann geboten, wenn die Entscheidung des Berufungsgerichts auf eine umfassend neue rechtliche Würdigung gestützt werde und diese mit den Parteivertretern im schriftlichen Verfahren nicht sachgerecht erörtert werden könne (KG BeckRS 2019, 36788 Rn. 19). Es ist allerdings wohl besser, in Fällen, in denen die Berufungsgerichte bei abweichender Begründung nach § 522 II 1 ZPO verfahren wollen, den Berufungsführer insoweit um sein Einverständnis zu bitten (Elzer FD-ZVR 2020, 426436).

Beschluss trotz Terminierung

Die Entschließung des Vorsitzenden eines Spruchkörpers, Termin anzuberaumen, stellt nach hM keine Entscheidung des Spruchkörpers als Ganzes dar. Seine Terminsverfügung trifft daher keine Aussage dahin, dass ein Verfahren nach § 522 II ZPO nicht in Betracht kommt (BVerfG NJW 2011, 3356 Rn. 14; aA Vossler MDR 2008, 722 [723]). In der Terminierungsverfügung jedenfalls vor Eingang der Berufungserwiderung ist keine Entschließung des Vorsitzenden zu sehen, nicht nach § 522 II ZPO vorgehen zu wollen (BVerfG NJW 2011, 3356 Rn. 14). In der Terminierung kann auch keine ihn persönlich unabänderlich festlegende Bewertung mit der Folge gesehen werden, dass Einstimmigkeit auch nach Beratung nicht mehr erreichbar sei. Am besten weist der Vorsitzende allerdings auf die Möglichkeit hin, dass das Berufungsgericht ungeachtet seiner Terminsverfügung noch nach § 522 II 1 ZPO verfahren könnte. 

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.04.2020 - 8 U 107/18, BeckRS 2020, 12808