Urteilsanalyse
OLG Hamm: Berufsunfähigkeitsversicherung - Dynamisierung der Prämie "und" der Leistung
Urteilsanalyse
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Ist bei einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung eine Dynamisierung von Prämie und Leistung vereinbart und regeln die AVB, dass sich die Erhöhung der Versicherungsleistungen nach dem Alter der versicherten Person, der restlichen Beitragszahlungsdauer und einem eventuell vereinbarten Beitragszuschlag errechnet, kommt dadurch hinreichend zum Ausdruck, dass der Umfang der Erhöhung der Leistungen nicht streng der Erhöhung der Prämie folgt.

13. Nov 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 22/2020 vom 29.10.2020

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VVG § 1 Satz 1; BGB §§ 305c I307 I 2, II

Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Höhe der von der Beklagten zu zahlenden Rente aus zwei Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherungen. In beiden ist eine Dynamisierung sowohl der Prämie als auch der Versicherungsleistung vereinbart. Die Prämienzahlungen wurden jeweils um 10% erhöht, die Versicherungsleistung um Sätze zwischen 8,0 und 9,8%. Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte sei auch zu einer Erhöhung der Rente um einen festen Satz von 10% p.a. verpflichtet gewesen. Die Beklagte macht geltend, dass nach dem Vertragswerk eine Dynamisierung der Leistungen um einen festen Satz von 10% nicht vereinbart sei. Das Landgericht wies die Klage ab. Die Berufung des Klägers blieb erfolglos.

Rechtliche Wertung

Die Beklagte habe die Rentenzahlungen nach den vertraglichen Regelungen zutreffend dynamisiert, so dass alle Ansprüche des Klägers erfüllt seien, entschied das OLG. Nach den vertraglichen Regelungen sei – wirksam – vereinbart, dass lediglich die Prämie mit einem festen Satz von 10% erhöht werden solle, während die Erhöhung der Leistungen davon abweichen könne. Dies könne auch ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer (VN) ohne juristische Kenntnisse erkennen.

In § 3 Abs. 1 der Besonderen Bedingungen (BB) sei ausdrücklich geregelt, dass sich «die Erhöhung der Versicherungsleistungen […] nach dem am Erhöhungstermin erreichten Alter der versicherten Person, der restlichen Beitragszahlungsdauer und einem eventuell vereinbarten Beitragszuschlag [errechnet].» Schon daraus werde unmissverständlich klar, dass die Erhöhung der Versicherungsleistung nicht zu einem festen Prozentsatz erfolge, sondern von verschiedenen Faktoren abhängig sei. Ebenso deutlich werde, dass der vereinbarte Beitragszuschlag nur einer von mehreren solcher Faktoren sei.

An diesem Auslegungsergebnis ändere sich auch nichts dadurch, dass in den Vertragsunterlagen an anderen Stellen mehrfach - in den Anträgen, der Schlusserklärung Nr. 10, den Versicherungsscheinen und den Tarifinformationen - von einer «planmäßigen Erhöhung von Prämie und Leistung» die Rede sei, ohne dass dort explizit deutlich gemacht werde, dass die Erhöhung jeweils unterschiedlichen Regelungen folge. In keiner dieser Regelungen finde sich eine Aussage dahingehend, dass die Versicherungsleistungen jährlich um einen festen Satz von 10% steigen sollen.

Die Regelungen seien auch wirksam. § 3 Abs. 1 BB sei weder bezogen auf den Inhalt noch auf den Standort im Bedingungswerk überraschend im Sinn von § 305c Abs. 1 BGB. Die Klausel sei weder objektiv ungewöhnlich noch weiche ihr Inhalt von den berechtigten Erwartungen des VN ab. Auch für einen durchschnittlichen VN liege es nahe, dass der Versicherer (VR) den sukzessive um jeweils 10% erhöhten Beitrag wegen der begrenzten Vertragslaufzeit umso kürzer erhält, je weiter die Dynamisierung voranschreitet. Schon daraus ergebe sich, dass die Erhöhung der Versicherungsleistung nicht ohne Weiteres der Erhöhung der Beiträge entsprechen könne, sondern selbstständig kalkuliert werden müsse. Ein VN müsse deshalb vernünftigerweise damit rechnen, dass der VR entweder die Steigerung der Prämie festschreiben werde - dann aber die Erhöhung der Leistung gesondert versicherungsmathematisch berechnen müsse (sogenanntes «Prämienprimat») - oder eine feste Erhöhung der Leistung vorsehen könne - dann aber die daraus resultierende Prämiensteigerung in der Höhe unterschiedlich sein könne (sogenanntes «Leistungsprimat»).

Die Regelung benachteilige den VN nach diesen Erwägungen auch nicht unangemessen im Sinn von §307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB und verstoße auch nicht gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Zwar könne der VN bei Vertragsschluss nicht präzise ersehen, in welcher genauen Höhe er Leistungen erhalten werde. Angesichts der Komplexität der anzustellenden versicherungsmathematischen Berechnungen und der verschiedenen möglichen Entwicklungen könne dies aber auch nicht verlangt werden.

Praxishinweis

Der sorgfältig begründeten Entscheidung ist zuzustimmen. Die Revision wurde nicht zugelassen, obwohl Neuhaus (Berufsunfähigkeitsversicherung, 4. Aufl. 2020, Kap. 4 Rn. 31 ff.) die Auffassung vertritt, dass «dieses Sammelsurium aus Begrifflichkeiten … für den durchschnittlichen VN nicht durchschaubar und häufig überraschend» sei.

Die Sache habe keine grundsätzliche Bedeutung, entschied das Gericht. Maßgeblich für die Frage, ob unterschiedliche Auffassungen vertreten würden, sei in erster Linie die Rechtsprechung. Da es dort keine divergierenden Auffassungen gebe, mache eine einzelne Literaturstimme die Rechtsfrage auch dann nicht klärungsbedürftig, wenn der BGH über sie noch nicht entschieden habe.

Diese restriktive Zulassungspraxis mag man bedauern, zumal es ja auch den Zulassungsgrund der Fortbildung des Rechts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO) gibt. Der Kläger hat aber Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Diese ist beim BGH anhängig unter dem Az. IV ZR 255/20.

OLG Hamm, Urteil vom 04.09.2020 - 20 U 182/19 (LG Münster), BeckRS 2020, 26677