Urteilsanalyse
Offenkundigkeit und rechtliches Gehör
Urteilsanalyse
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Möchte ein Gericht von ihm dem Internet entnommene Tatsachen als offenkundig iSd § 291 ZPO seinem Urteil zugrunde legen, muss es den Parteien durch einen Hinweis die Möglichkeit zur Stellungnahme geben, so der BGH. Ein Hinweis kann nur dann unterbleiben, wenn es sich um Umstände handelt, die den Parteien ohne Weiteres gegenwärtig sind und von deren Entscheidungserheblichkeit sie wissen. 

11. Mai 2022

Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 09/2022 vom 06.05.2022

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Sachverhalt

Ein OLG recherchiert im Internet für einen „Dieselfall“, in welcher Weise die Audi AG mit der Volkswagen AG konzernmäßig „verflochten“ ist. Das OLG entnimmt insoweit einem im Internet veröffentlichten Konzern-Organigramm der Volkswagen AG Kenntnisse und hält diese iSv § 291 ZPO ohne Weiteres für offenkundig. Die Nichtzulassungsbeschwerde macht geltend, dass das OLG damit den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 I GG entscheidungserheblich verletzt habe.

Entscheidung: Das sieht der BGH auch so!

Ein Gericht dürfe seiner Entscheidung keine Tatsachen zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern. Das gelte auch dann, wenn es sich um offenkundige Tatsachen iSd § 291 ZPO handele. Zu diesen gehörten auch solche Tatsachen, die das Gericht dem Internet entnommen habe. Wolle es diese zur Grundlage seines Urteils machen, müsse es das Ergebnis seiner Ermittlungen den Parteien zugänglich machen und ihnen durch einen Hinweis die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Ein Hinweis könne nur dann unterbleiben, wenn es sich um Umstände handele, die den Parteien ohne Weiteres gegenwärtig seien und von deren Entscheidungserheblichkeit sie wüssten.

Praxishinweis

Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen nach § 291 ZPO keines Beweises. Tatsachen sind iSv § 291 ZPO ua dann „offenkundig“, wenn Sie allgemein zugänglichen, zuverlässigen Quellen entnommen werden können (BeckOK ZPO/Bacher, 44. Ed. 1.3.2022, ZPO § 291 Rn. 3). Das Internet selbst ist nach der jüngeren Rechtsprechung eine solche Quelle (BGH NZI 2020, 679 Rn. 15; s. auch OLG Köln NJOZ 2016, 1410 Rn. 8; OLG Zweibrücken BeckRS 2014, 13307 = FD-ZVR 2014, 360026 (Ls.)).

Dem ist in dieser Allgemeinheit nicht zuzustimmen. Zwar dürfte das Internet idR allgemein zugänglich sein. Für die Frage der Zuverlässigkeit kommt es aber nicht auf das Internet an, sondern auf die Quelle, die man dort aufsucht. Beispielsweise die Daten des statistischen Bundesamtes, Wetterdaten oder Mietspiegel dürften zuverlässig sein. Egal, wie man es sieht: Jedenfalls muss ein Gericht nach Art. 103 I GG, wenn es sich auf eine im Internet aufgesuchte Quelle stützen will, hierauf nach § 139 ZPO hinweisen (vgl. auch Arz NJW 2021, 355 Rn. 36) und den Parteien Gelegenheit geben, zur (eigentlichen) Quelle und ihrem Inhalt Stellung zu nehmen (BGH NZI 2020, 679 Rn. 15; BGH NJW-RR 1993, 1122 unter II 3).

Ein Rechtsmittelführer, der die Verletzung einer gerichtlichen Hinweispflicht gem. § 139 ZPO geltend macht, muss im Übrigen ­ – was es im Fall auch war (vgl. Rn. 10 und Rn. 11) – darlegen, wie er auf einen entsprechenden Hinweis reagiert, insbesondere was er hierauf im Einzelnen vorgetragen hätte und wie er weiter vorgegangen wäre (BGH NJW-RR 2018, 1003 Rn. 13 = FD-ZVR 2018, 406432 mAnm Toussaint; BGH, NJW-RR 2016, 952 Rn. 14). Nur hierdurch wird das Rechtsmittelgericht in die Lage versetzt zu beurteilen, ob die angefochtene Entscheidung auf dem geltend gemachten Verstoß gegen die Hinweispflicht beruht.

BGH, Beschluss vom 27.01.2022 - III ZR 195/20, BeckRS 2022, 3240