NJW-Editorial
Öffnet das Tor des BGH
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Weil die Wirtschaft viele Streitigkeiten von Schiedsgerichten entscheiden lässt, fehlt der Rechtsprechung hier die Möglichkeit zur Rechtsfortbildung.
Der Gesetzgeber sollte die Ursachen für die Flucht vor dem BGH in den Blick nehmen und in der neuen Legislaturperiode klarstellen, dass ein offensichtlich fehlerhaftes Berufungsurteil immer zur Revision führt und vom BGH aufgehoben wird.

17. Dez 2021

Es ist unbestritten, dass die Gerichte Streitigkeiten aus Teilen des Unternehmensrechts an die Schiedsgerichtsbarkeit verloren haben. Das steht im deutlichen Gegensatz zu England, wo die Gerichte in London trotz des Brexits ihre international führende Position behalten haben. Damit fehlt den deutschen Gerichten auf den verloren gegangenen Gebieten – wie etwa bei Post-M&A-Streitigkeiten – die Möglichkeit zur Rechtsfortbildung. Die Schiedsgerichtsbarkeit ist dazu, schon wegen ihrer Vertraulichkeit, weder bestimmt noch geeignet. Das ist eine für den Rechtsstandort Deutschland insgesamt missliche Situation. Ein Urteil des BGH zur Auslegung des Gesellschaftsvertrags einer „geplatzten“ Anwaltssozietät ist keine Quelle für ein Schiedsgericht, das über eine Streitigkeit zwischen Großunternehmen aus einem Joint Venture zu entscheiden hat.

Die gerade begonnene Legislaturperiode mit einer neuen Koalition ermöglicht einen unbefangenen Blick auf die Ursachen, die dazu geführt haben, dass die Gerichte das Vertrauen der Wirtschaft verloren haben, große Verfahren aus dem Wirtschaftsrecht sachkundig zu entscheiden. Zwei Gründe aus dem Prozessrecht sind hier zu nennen: die Novellierung des Revisionsrechts von 2002 und deren Umsetzung durch den BGH. Die Reform von 2002 war von der Vorstellung beherrscht, dass das alte Recht die „wirtschaftlich Stärkeren“ in unangemessener Weise privilegiert habe. Der Rückgang von Streitigkeiten zwischen Unternehmen mit hohen Streitwerten war damit vom damaligen Gesetzgeber gewollt. Der BGH hat eigenständig hierzu beigetragen. In einem Urteil aus dem Jahr 2003 (NJW 2003, 1943) hatte er ausgeführt, dass ein offensichtlich fehlerhaftes Berufungsurteil nur dann zur Zulassung der Revision führe, wenn gleichzeitig Verfahrensgrundrechte verletzt seien. Dieser Rechtsprechung sind die Unternehmen dadurch ausgewichen, dass sie vermehrt in ihre Verträge Schiedsklauseln aufgenommen oder sogar, wie einige Großunternehmen, die Flucht aus dem deutschen Recht angetreten haben.

Der Gesetzgeber sollte daher umgehend klarstellen, dass ein offensichtlich fehlerhaftes Berufungsurteil über die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 543 ZPO zur Revision führt und vom BGH aufgehoben wird, selbst dann, wenn kein Verfahrensgrundrecht verletzt ist. Ist ein Fehler offensichtlich und entscheidungserheblich, genügen zur Begründung der Aufhebung wenige Sätze. Eine mündliche Verhandlung wäre nicht notwendig. Die regelmäßig ganz kurzen Entscheidungen der französischen Cour de Cassation mögen für den BGH als Vorbild dienen. Der damit verbundene Mehraufwand ist gering, der Gewinn an Vertrauen in die Rechtsprechung als Ganzes für die Unternehmen allerdings groß.

Prof. Hilmar Raeschke-Kessler, LL.M., ist Rechtsanwalt beim BGH in Karlsruhe.