Urteilsanalyse
Notwendigkeit erneuter Zeugenvernehmung in der Berufungsinstanz
Urteilsanalyse
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Das Berufungsgericht ist zur erneuten Vernehmung eines Zeugen verpflichtet, wenn es dessen Glaubwürdigkeit anders beurteilen oder dessen Aussage anders verstehen will als die Vorinstanz. Unterlässt es dies, verletzt es nach einem Beschluss des BGH vom 27.1.2021 das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei.

26. Mrz 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 06/2021 vom 19.03.2021

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Sachverhalt

Während des Bestehens einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Parteien erwarb der Beklagte zu Alleineigentum ein von ihm allein finanziertes Hausgrundstück, das die Parteien in der Folge nach erheblichem Renovierungsaufwand gemeinsam bewohnten. Die gemeinsame Lebensführung der Parteien wurden durch unmittelbar auf das Konto des Beklagten gezahlte Renteneinkünfte der Klägerin und eigene (höhere) Renteneinkünfte des Beklagten finanziert. Nach der Trennung der Parteien verlangt die Beklagte vom Kläger Herausgabe des von ihr behaupteten Finanzierungsbeitrags zum Grundstückserwerb, den sie aus der Differenz zwischen ihren auf das Konto des Beklagten geflossenen Rentenbezügen und eines ihr monatlich zur Verfügung gestellten Haushaltsgeldes sowie einer monatlichen Miete errechnet. Das LG hat die Klage nach Vernehmung der Tochter der Klägerin abgewiesen (LG Gießen BeckRS 2019, 53462). Es hat (jedenfalls) eine konkrete Zweckabrede iSd § 812 I 2 Fall 2 BGB auch auf Grundlage der Aussage der Zeugin nicht als erwiesen angesehen, ua weil diese insgesamt sehr unsicher gewirkt habe. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG der Klage ohne erneute Beweisaufnahme bis auf einen Teil der geltend gemachten Zinsen stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe gegen den Beklagten einen Anspruch aus § 812 I 2 Fall 2 BGB, weil aufgrund der gesamten Umstände, insbesondere der Gestaltung und des Ablaufs der nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Parteien, anzunehmen sei, dass der gemeinschaftsbezogenen Zuwendung der Klägerin die übereinstimmende Vorstellung einer lebenslangen gemeinschaftlichen Nutzung des Hauses durch die Parteien zugrunde gelegen habe. Dass sich die Klägerin mit der Anweisung der Zahlung auf das Konto des Beklagten nach Vorstellung beider Parteien an der Hausfinanzierung habe beteiligen wollen, belege auch die Aussage der in erster Instanz vernommenen Zeugin. Damit habe der Beklagte das lebenslange Wohnrecht als Zweck der Leistungen der Klägerin erkannt und diese entgegengenommen, ohne zu widersprechen. Der Beklagte sei auch dem Vorbringen der Klägerin, dass mit den Geldeingängen auf seinem Konto die auf dem Haus lastenden Annuitäten bedient werden sollten, nicht substanziiert entgegengetreten. Vielmehr lasse sich seinem eigenen Vortrag die Vereinbarung entnehmen, zur Sicherstellung dieser Zahlungsverpflichtungen alle finanziellen Eingänge auf sein Konto leiten zu lassen. In diese Richtung deute zudem die Aussage der in erster Instanz vernommenen Zeugin.

Entscheidung: Würdigung der Zeugenaussage ohne erneute Vernehmung war gehörsverletzend

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat der BGH die Revision gegen das Berufungsurteil zugelassen, soweit darin zum Nachteil des Beklagten entschieden worden ist, und im Umfang der Zulassung (wie von § 544 IX ZPO für den Fall der Zulassung wegen einer Gehörsverletzung ermöglicht) sogleich das Berufungsurteil aufgehoben sowie den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Die Revision sei gem. § 543 II 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, weil dem angefochtenen Urteil ein entscheidungserheblicher Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 I GG zugrunde liege, indem es die Aussage der vom LG vernommenen Zeugin abweichend gewürdigt habe, ohne sie erneut zu vernehmen. Denn das Berufungsgericht habe „aufgrund der gesamten Umstände“ die Überzeugung gewonnen, den Zuwendungen der Klägerin habe als Zweckabrede die übereinstimmende Vorstellung der lebenslangen gemeinsamen Nutzung des Hauses zugrunde gelegen. Es habe diese Würdigung ausdrücklich „auch“ durch die Aussage der vom LG vernommenen Zeugin als belegt angesehen und anschließend eine Gesamtwürdigung unter Einbeziehung der Zeugenaussage vorgenommen. Dabei handele es sich auch nicht lediglich um eine andere rechtliche Würdigung einer vom LG festgestellten Aussage, die weder einen Bezug zur Urteilsfähigkeit, dem Erinnerungsvermögen oder der Wahrheitsliebe der Zeugin noch zur Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit ihrer Aussage aufweise. Denn das LG habe die Aussage eingehend gewürdigt und ausdrücklich Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin formuliert, indem es sie in den Entscheidungsgründen als „sehr unsicher“ wirkend bezeichnet habe. Dem entsprechend habe sich das LG ausdrücklich auch unter Einbeziehung der Aussage der Zeugin – anders als das Berufungsgericht – nicht in der Lage gesehen, eine Zweckvereinbarung der Parteien gemäß § 812 I 2 Fall 2 BGB festzustellen. Daher sei das Berufungsgericht nur durch eine erneute Vernehmung der Zeugin in der Lage gewesen, sich ein eigenes Bild von deren Glaubwürdigkeit und der Ergiebigkeit ihrer Aussage im Hinblick auf eine Zweckvereinbarung zu machen, und hätte das Urteil nicht ohne erneute Anhörung auf die Aussage der Zeugin stützen dürfen. Die Gehörsverletzung sei entscheidungserheblich und das angefochtene Urteil stelle sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, wenn es die Zeugin erneut vernommen hätte, eine Zweckvereinbarung im Sinne von § 812 I 2 Fall 2 BGB nicht festgestellt hätte und deshalb insgesamt zu einer abweichenden Beurteilung gelangt wäre.

Praxishinweis

Grundsätzlich ist das Berufungsgericht nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist allerdings eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten. Das gilt insbesondere für die erneute Vernehmung von Zeugen, die grundsätzlich gemäß § 398 I ZPO im Ermessen des Berufungsgerichts steht. Das Berufungsgericht ist deshalb nach stRspr des BGH verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders als die Vorinstanz beurteilt oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (d.h. seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit (d.h. die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen (vgl Nachw. bei Rn. 7 der Entscheidung).

BGH, Beschluss vom 27.01.2021 - XII ZR 21/20, BeckRS 2021, 2640