Anmerkung von
Rechtsanwältin Lucia Kretschmer, LEX MEDICORUM, Leipzig
Aus beck-fachdienst Medizinrecht 10/2022 vom 07.10.2022
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Sachverhalt
Am 10.02.2017 unterzog sich der Kläger nach entsprechender Aufklärung einer LASIK-Laserbehandlung am rechten Auge aufgrund einer bestehenden Kurzsichtigkeit. Der Eingriff wurde unter Vollnarkose durchgeführt, gleichwohl kam es zu einem Kneifen des Auges, woraufhin sich Laserschnitt dezentrierte. Der beklagte Augenarzt unterbrach daraufhin die LASIK-Behandlung und führte sodann eine photoreaktive EXCIMER-Laserbehandlung (nachfolgend: PRK) durch. Am 25.08.2017 erfolgte durch den Beklagten eine Revisions-PRK am rechten Auge. Auch diese Behandlung fand unter Vollnarkose statt. Streitgegenständlich sind nunmehr fortbestehende Sehbeschwerden und Augentrockenheit. Der Kläger fordert materielle sowie immaterielle Schadenbegleichung. Vorinstanzlich blieb der Kläger erfolglos, weswegen er eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof einreichte.
Entscheidung
Das Gericht entsprach dem klägerischen Begehren und hob den Zurückweisungsbeschluss der eingelegten Berufung auf. Das OLG Brandenburg muss sich somit erneut mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt beschäftigen.
Entgegen den Auffassungen der Vorinstanzen erblickte der BGH im bisherigen prozessualen Vorgehen einen Verstoß gegen das verfassungsrechtlich geschützte rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. In den vorinstanzlichen Verfahren habe der Kläger u.a. die Aufklärungsrüge erhoben, welche seitens des Beklagten mit dem Einwand der hypothetischen Einwilligung verteidigt worden seien. Die Vorinstanzen seien zwar richtigerweise davon ausgegangen, dass in einer derartigen Konstellation der Kläger glaubhaft machen müsse, er habe sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden. Der Patient müsse aber zur Darstellung des Konfliktes persönlich angehört werden – so das oberste Gericht. Die persönliche Anhörung sei vorinstanzlich unterblieben. In erster und zweiter Instanz sei vielmehr darauf abgestellt worden, dass dem Kläger schriftsätzlich keine plausible Darstellung des Entscheidungskonflikts gelungen, die Anhörung mithin nicht erforderlich sei. Nach Auffassung des BGH kann von einer persönlichen Anhörung jedoch nur in besonderen Ausnahmefällen abgesehen werden. Ein solcher liege beispielsweise vor, wenn bereits die äußeren Umstände unstreitig sind und eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben. Streitig geblieben seien vorliegend aber gerade die äußeren Umstände der Aufklärung sowie der daraus resultierenden tatsächlichen Entscheidungssituation des Klägers. Der mangels Anhörung verursachte Gehörsverstoß sei zudem erheblich, da nicht von vornherein auszuschließen sei, dass das Berufungsgericht nach Anhörung des Klägers zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Dass der Kläger trotz Anordnung seines persönlichen Erscheinens erstinstanzlich den Termin nicht wahrnahm und auch keine Terminsverlegung beantragte, sei für das Vorliegen des erheblichen Gehörverstoßes ebenso irrelevant, da der Kläger den Termin entschuldigt versäumt habe.
Praxishinweis
Der BGH schloss damit an seine bisherige Rechtsprechung an und verdeutlichte erneut, dass zum einen keine zu hohen Anforderungen an die Plausibilitätsdarstellung des Entscheidungskonfliktes zu stellen sind und zum anderen durch die persönliche Anhörung vermieden werden soll, dass der Tatrichter bei der Verneinung eines Entscheidungskonflikts vorschnell auf eine objektive und ggf. vernünftige Betrachtungsweise abstellt, ohne die persönlichen, vielleicht unvernünftigen Gedankengänge eines jeden einzelnen Patienten mit in Betracht zu ziehen.
Einmal mehr sprach sich der BGH mit dieser Entscheidung für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht eines jeden Patienten aus und rückte die Bedeutsamkeit der Selbstbestimmungsaufklärung weiter in den Vordergrund.
Der behandelnde Arzt kann und sollte sich zwar nach wie vor bei erhobener Aufklärungsrüge auf die hypothetische Einwilligung berufen. Jedoch führen die zwingende persönliche Anhörung des klagenden Patienten sowie der Appell an die Tatsacheninstanzen, die Anforderungen der Plausibilitätsdarstellung eines Entscheidungskonfliktes nicht zu hoch anzusetzen, zu einer gewissen Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des Patienten. Diese Verschiebung mag verfassungsrechtlich begründbar sein, kann aber auch zur Folge haben, dass in alltäglichen, arzthaftungsrechtlichen Prozessen ein für den beklagten Arzt spürbares Ungerechtigkeitsempfinden einkehrt.
BGH, Beschluss vom 21.06.2022 - VI ZR 310/21 (OLG Brandenburg), BeckRS 2022, 17791