Anmerkung von
Rechtsanwältin Jessica Friedrich, Knierim & Kollegen, Mainz
Aus beck-fachdienst Strafrecht 10/2023 vom 19.05.2023
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Sachverhalt
Gegen den B wird von der StA ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 BtMG geführt. B wird vorgeworfen, 0,7g Marihuana sowie 3,2g Methamphetamin besessen zu haben, wobei diese Betäubungsmittel im Rahmen einer Verkehrskontrolle bei B aufgefunden und sichergestellt worden seien. Der Rechtsanwalt R zeigte die Verteidigung des B an und beantragte namens und in Vollmacht des B, diesem gemäß § 140 Abs. 2 StPO i.V.m. § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 142 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO beigeordnet zu werden. R führte aus, dass er im Falle seiner Beiordnung das Wahlmandat niederlege. Zur Begründung führte R aus, dass es sich hierbei um einen Verstoß gegen das BtMG anlässlich der Festnahme „aufgrund 230-er Haftbefehls“ handele. Das AG wies den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zurück. Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO lägen nicht vor. Weder die Schwere der Tat noch die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ließen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen. Es sei nicht ersichtlich, dass sich B nicht selbst verteidigen könne. Auch die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO seien nicht gegeben. R legte sofortige Beschwerde gegen den Beschluss ein. Er führte aus, dass B unter amtlicher Betreuung stehe, sodass ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO gegeben sei. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst auch die Vertretung in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten.
Entscheidung
Die nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO i.V.m. § 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde des B ist im Ergebnis begründet.
Vorliegend
seien die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers
gegeben. Es liege ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor. Nach § 140 Abs. 2 StPO
liege ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere
der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der
Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines
Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich ein
Beschuldigter nicht selbst verteidigen kann. Vorliegend sei die
Mitwirkung eines Verteidigers geboten, weil B sich selbst nicht sinnvoll
verteidigen könne. Die Mitwirkung eines Verteidigers sei immer dann
erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass ein Beschuldigter
aus in seiner Person liegenden Gründen (geistige Fähigkeiten,
Gesundheitszustand, sonstige Umstände) nicht in der Lage sein werde,
alle Möglichkeiten einer sachgemäßen Verteidigung zu nutzen. Dabei sei § 140 Abs. 2 StPO
schon dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung
erhebliche Zweifel bestünden. Stehe ein Beschuldigter unter Betreuung
und zähle zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden,
sei insoweit stets von einer notwendigen Verteidigung auszugehen. Vor
dem Hintergrund des Umstandes, dass B unter Betreuung stehe, sei
vorliegend von einer Unfähigkeit zur Selbstverteidigung und somit von
einer notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO auszugehen. In Anwendung des § 309 Abs. 2 StPO habe die Kammer dem B den R als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Praxishinweis
Nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. ein Fall der notwenigen Verteidigung vor, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Zweifel können aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten, Einschränkungen aufgrund seiner speziellen Situation bestehen (Kämpfer/Travers, in: MüKo-StPO, § 140 Rn. 47). Die Entscheidung des Landgerichts – dass ein Fall der notwenigen Verteidigung anzunehmen ist, wenn ein Angeklagter unter Betreuung seht und zu dem Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden zählt – steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Landgerichte (LG Berlin StV 2020,165; LG Leipzig BeckRS 2017,128130). Auch das OLG Hamm hat entschieden, dass einem 80-jährigen Angeklagten, der seit sieben Jahren unter Betreuung steht, ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. Selbst wenn ihm nur eine geringfügige Geldstrafe droht (NJW 2003, 3286). Das Kammergericht wertet die Betreuung eines Angeklagten jedenfalls als Indiz für eine Verteidigungsunfähigkeit (KG BeckRS 2016, 4227).
LG Magdeburg, Beschluss vom 21.07.2022 - 25 Qs 262 Js 24395/22 (53/22) (AG Aschersleben), BeckRS 2022, 2777