Urteilsanalyse
Notstandsrechtfertigung einer innerstädtischen Geschwindigkeitsübertretung
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Eine Geschwindigkeitsübertretung kann durch Notstand gerechtfertigt sein, wenn nur so die erforderliche schnelle Hilfe für eine schwer erkrankte oder verletzte Person geleistet werden kann. Eine Notstandsrechtfertigung kommt nach Ansicht des OLG Düsseldorf i.d.R. aber nicht in Betracht, wenn der Betroffene nicht zuvor vergeblich einen anderen Ausweg aus der Notsituation gesucht hat, bspw. durch Anforderung eines Notarztes bzw. Rettungswagens.

12. Apr 2021

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Dr. Ruth Anthea Kienzerle, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 07/2021 vom 01.04.2021

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Sachverhalt

A befuhr im Stadtgebiet die BAB 59 bei zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mit 120 km/h (nach Toleranzabzug). A verteidigte sich damit, dass er Arzt sei und seine wegen eines medizinischen Notfalls in akuter Lebensgefahr schwebende schwangere Ehefrau selbst in ein Krankenhaus habe bringen wollen. Er habe die Ressourcen des Rettungsdiensts schonen wollen, weil ihm wegen diverser Notfalleinsätze bekannt sei, dass Einsatzfahrzeuge nach einem Einsatz wegen der Corona-Pandemie umständlich desinfiziert werden müssten. Außerdem brauche ein „Krankenwagen“ (RTW) seiner Erfahrung nach 15 Minuten. Das AG führte aus, dass eine Geschwindigkeitsüberschr. zwar grundsätzlich durch Notstand gerechtfertigt sein könne, im konkreten Fall sei die Maßnahme aber zur Abwendung einer gegenwärtigen Lebensgefahr nicht geeignet gewesen, da A einen RTW hätte rufen können. Es verurteilte A zu einer Geldbuße von 130 EUR.

Entscheidung

Das OLG verwarf den hiergegen gerichteten Antrag des A auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mangels Zulassungsgrund als unbegründet.

Die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstands gemäß § 16 OWiG seien in der Rspr. hinreichend geklärt. Zwar könne eine Geschwindigkeitsüberschr. durch Notstand gerechtfertigt sein, wenn nur so die erforderliche schnelle Hilfe für eine schwer erkrankte oder verletzte Person geleistet werden könne. Das setze aber voraus, dass die Überschreitung der Geschwindigkeit ein geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr sei. Die Rechtfertigung komme insbesondere dann nicht in Betracht, wenn A nicht zuvor vergeblich einen anderen Ausweg aus der Notsituation gesucht habe, etwa durch Anforderung von Notarzt und Rettungswagen. Nur bei besonderen Umständen, könne eine solche durch Notstand gerechtfertigt sein. Diese seien vorliegend „ersichtlich“ nicht erfüllt. A habe schon nicht versucht, rettungsdienstliche Hilfe anzufordern. Zwar sei es zutreffend, dass ein RTW 15 Minuten für die Anfahrt benötigen könne. Hier wäre ein solcher aber nicht zum Einsatz gekommen, sondern RTW und Notarzt entsendet worden, die mit Sonder- und Wegerechten fahren und im innerstädtischen Großstadtbereich in aller Regel innerhalb kurzer Zeit eintreffen würden. Dies habe A als Arzt bekannt gewesen sein müssen.

Es gäbe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Notfall vorgelegen habe, bei dem ein sofortiger Transport dringend geboten gewesen sei. Die Einsatztaktik „load and go“, bei der bei nicht (ausreichend) stabilisierbaren Patienten ein sofortiger Transport ins Krankenhaus erfolge, sei in der professionellen Notfallmedizin die Ausnahme, was A als Arzt ebenfalls habe bekannt gewesen sein müssen. A habe vorliegend nicht nur das Schonen der Ressourcen des Rettungsdiensts über das „angeblich“ bedrohte Leben seiner schwangeren Ehefrau gestellt, sondern schon keine geeignete Rettungsmaßnahme getroffen. Angesichts der flächendeckenden Vorhaltung von RTW sei der selbständige Transport einer lebensbedrohlich erkrankten Person in einem privaten Pkw nur bei Hinzutreten außergewöhnlicher Umstände, die hier „zweifelsohne“ nicht gegeben gewesen seien, eine geeignete Rettungsmaßnahme. Eine Versorgung während der Fahrt sei, auch wenn es sich bei A um einen Arzt handele, jedenfalls nicht ohne ein mit einer erheblichen Zeitverzögerung verbundenes Anhalten möglich und Notfallmedikamente und medizinische Notfallausrüstung würden nicht im erforderlichen Umfang und nicht wie in einem RTW vorgehalten. Hinzu komme, dass ein Pkw auch keine adäquate Lagerungsmöglichkeit biete.

Praxishinweis

Der Notstand zur Rechtfertigung von Geschwindigkeitsüberschr. ist ein Klassiker. Neben Fällen, in denen auf die Verrichtung einer „dringenden Notdurft“ rekurriert wird, hat sich die Rspr. häufig mit der Einlassung des Geschwindigkeitsverstoßes als Notstandshandlung wegen eines medizinischen Notfalls auseinanderzusetzen. Im vorliegenden Fall hält das OLG den Einwand für einen Vorwand. Es macht keinen Hehl daraus, dass es dem A nicht glaubt und teilt mit, sich zu ergänzenden Ausführungen, weshalb die eigenständige Verbringung der erkrankten Ehefrau keine geeignete Rettungsmaßnahme war, „genötigt“ zu sehen. Indessen ist ein Notstand bei Geschwindigkeitsüberschr. aufgrund Hilfeleistung für einen Schwerkranken nicht grds. wegen der Möglichkeit, einen RTW zu rufen, ausgeschlossen (OLG Köln, NStZ 2006, 526 m.w.N.). Betr. sind also keineswegs immer darauf beschränkt, den Rettungsdienst anzufordern.

Ein rechtfertigender Notstand wurde bspw. angenommen bei einem Taxifahrer, der eine schwangere Frau, bei der die Wehen einsetzten, ins Krankenhaus fuhr (OLG Düsseldorf NZV 1996, 122), bei einer Fahrt in ein entlegenes Krankenhaus, um die dortige Behandlung der Ehefrau wegen gefährlicher Überdehnung der Harnblase durch den Arzt des Vertrauens zu ermöglichen (OLG Schleswig VRS 30, 462) oder bei der Fahrt eines Arztes in die Belegklinik zu einer Patientin, bei der unerwartet schwere Blutungen einsetzten, die eine unverzügliche Notoperation notwendig erscheinen ließen (BayObLG NJW 1991, 1626). Beim Einwand des Notstands muss die Verteidigung aber die rechtlichen Folgeprobleme beachten: Bei Annahme einer Ausnahmesituation und bei Annahme der Geeignetheit der Geschwindigkeitsüberschr. als Notstandshandlung dürfte meist Vorsatz vorliegen.

Durch das Gericht ist aufzuklären, welche Umstände die Veranlassung für die Geschwindigkeitsüberschr. gaben, wie sich der medizinische Notfall für die Betr. darstellte, ob das geschützte Interesse das Betr. wesentlich überwiegt, ob durch die Geschwindigkeitsüberschr. ein erheblicher Zeitgewinn erzielt wurde, wie wertvoll dieser im konkreten Fall für den akuten Krankheitszustand war und ob man nicht anders als durch zu schnelles Fahren hätten helfen können (Kerkmann, NZV 2020, 106). Wenn keine Feststellungen zur Fahrtstrecke und konkreten Gefährdung anderer VerkehrsteilnehmerInnen getroffen werden, ist die abstrakte Gefährlichkeit von innerörtlichen Geschwindigkeitsüberschr. in Rechnung zu stellen (s. BayObLG NJW 2000, 888). Selbst bei medizinischen Notfällen wendet die Rspr. einen strengen Maßstab an. In innerstädtischen Bereichen dürfte dies angesichts der schnellen Verfügbarkeit des Rettungsdiensts meist dazu führen, dass der Einhaltung der Geschwindigkeit der Vorrang einzuräumen ist, wenn nicht zuvor erfolglos versucht wurde, einen anderen Ausweg aus der Notsituation zu finden.

Zu beachten ist ferner, dass die Rspr. teils dazu neigt, das Nicht-Rufen des Rettungsdiensts aufgrund der im innerstädtischen Bereich zeitnah möglichen Rettungsdienstversorgung dahingehend zu werten, die Betr. seien selbst nicht von einem Notfall ausgegangen, bei dem es auf jede Sekunde ankomme. Dann muss die Verteidigung ein Augenmerk darauf legen, ob nicht ein Irrtum mit der Folge fahrlässigen Handelns, bzw. eine notstandsähnliche Lage vorlag, bei der von der Rspr. mangels Handlungsunrecht i.d.R. von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen wird (Kerkmann, NZV 2020, 106). Jedenfalls ist seitens der Verteidigung hervorzuheben, dass ÄrztInnen, die von einem medizinischen Notfall ausgehen, der sofortige Behandlung notwendig macht, nicht aus grobem Leichtsinn, Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit, sondern vielmehr mit Rettungswillen aus Sorge um Leben oder Gesundheit ihrer PatientInnen handeln, und dass diese altruistische Motivation nicht dadurch entfällt, dass auch ein RTW zu erreichen gewesen wäre (OLG Karlsruhe NJW 2005, 3158).

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.03.2021 - 2 RBs 13/21, BeckRS 2021, 3660