Urteilsanalyse
Notbevorratung ist kein Mehrbedarf
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Zusätzliche Aufwendungen für eine Notbevorratung wegen höherer Lebensmittelpreise sowie für Schutzmasken und Schutzkleidung während der Corona-Pandemie stellen keinen unabweisbaren Bedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II oder § 24 Abs. 1 SGB II dar. (Amtlicher Leitsatz)

Madeleine Beul, 8. Mai 2020.

Anmerkung von
Wiss. Mitarbeiterin Madeleine Beul, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 09/2020 vom 08.05.2020

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Sachverhalt

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hatte das SG Konstanz zu beurteilen, ob anlässlich der Corona-Pandemie (Covid-19-Pandemie) entstehende erhöhte Aufwendungen für Notbevorratung, Schutzmasken und Schutzkleidung einen unabweisbaren Bedarf darstellen, der einen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs zum SGB II-Regelsatz bzw. eines Darlehns begründet.

Der Antragsteller bezieht seit Jahren Leistungen nach dem SGB II. Zunächst beantragte er Ende Februar 2020 unter Hinweis auf die Corona-Pandemie einen Zuschuss zum gewährten Regelsatz für die Notbevorratung von Lebensmitteln, für eine Mundschutzmaske und für Desinfektionsmittel. Der Antrag wurde abgelehnt. Daraufhin beantragte der Antragsteller Mitte März 2020 die Gewährung eines Darlehns für die gewünschte Notbevorratung. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.

Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren stellte er sodann den Antrag, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm 500 EUR für Desinfektionsmittel, Hygieneartikel und Grundnahrungsmittel als Zuschuss, hilfsweise als Darlehen zu gewähren. Zur Begründung führte er aus, die Corona-Pandemie habe zu „Hamsterkäufen“ geführt, bei denen nicht selten billige Produkte an Grundnahrungsmittel (z.B. Reis, Nudeln) sowie Hygieneartikeln (z.B. Toilettenpapier, Seife) ausverkauft seien. Er sei daher gezwungen, teurere Produkte zu kaufen. Außerdem rate das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zu einer Notbevorratung von Lebensmitteln für mindestens 10 Tage. Hierfür entstünden Kosten von mehreren hundert Euro. Schließlich seien Hygieneartikel und spezielle Schutzmasken bzw. -kleidung auf dem freien Markt zu gewöhnlichen Preisen nicht zu beschaffen.

Der Antragsgegner machte demgegenüber geltend, die von dem Antragssteller aufgeführten Kosten für eine Notbevorratung seien aus dem gewährten Regelbedarf zu decken.

Entscheidung

Das SG lehnte den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Es fehle schon an einem Anordnungsanspruch des Antragstellers. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei den geltend gemachten Aufwendungen um einen laufenden Bedarf i.S.d. § 21 Abs. 6 SGB II handele, der für die Geltendmachung eines Mehrbedarfes erforderlich ist, oder um einen einmaligen Bedarf i.S.d. § 24 Abs. 1 SGB II, der für die Gewährung eines Darlehens vorausgesetzt ist, handele es sich jedenfalls nicht um einen von beiden Anspruchsgrundlagen vorausgesetzten unabweisbaren Bedarf.

Zwar treffe es zu, dass das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe dazu rate, einen Lebensmittelvorrat für 14 Tage zu bilden, jedoch stelle die Bildung eines solchen Vorrates aktuell keinen unabweisbaren Bedarf dar. Vielmehr läge es im Bereich der eigenverantwortlichen Entscheidung des Leistungsberechtigten, einen solchen Vorrat anzulegen. Denn der Ratschlag des Bundesamtes sei nicht speziell für die Corona-Pandemie ausgesprochen worden, sondern betreffe generell mögliche Katastrophen und Notfälle wie z.B. Hochwasser oder Erdbeben. Treffe der Antragsteller die Entscheidung einen entsprechenden Notvorrat zu bilden, sei es ihm zumutbar, diesen zeitlich gestaffelt aufzubauen und nach und nach aus den ihm gewährten Regelleistungen zu zahlen.

Auch habe die Corona-Pandemie nicht dazu geführt, dass der Antragsteller aktuell dazu gezwungen sei, einen Vorrat zu bilden, der über dasjenige hinausgeht, was in einem Haushalt auch sonst üblich ist. Zwar habe das Land Baden-Württemberg eine Corona-Verordnung erlassen, die zu wesentlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens führe, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Jedoch seien Supermärkte, Bäckereien, Wochenmärkte etc. hiervon nicht betroffen und der regelmäßige Einkauf von Lebensmitteln weiterhin möglich.

Auch begründe eine mögliche behördlich angeordnete „häusliche Quarantäne“ nach § 30 IfSG nicht die Notwendigkeit einer Notbevorratung. Für den Fall einer solchen Anordnung sei es zwar wünschenswert, wenn im Haushalt entsprechende Vorräte vorgehalten würden, jedoch könne dies durch die anordnende Behörde im Einzelfall nicht erwartet werden. Stattdessen obliege ihr die Pflicht, die abgesonderten Personen mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen.

Des Weiteren bestehe auch kein unabweisbarer Mehrbedarf dadurch, dass Lebensmittel infolge der Corona-Pandemie allgemein teurer geworden seien. Unter Hinweis auf Stellungnamen des Sozialministeriums Baden-Württemberg und der Bundeslandwirtschaftsministerin stellt das Sozialgericht fest, dass es aktuell keine konkreten Hinweise auf schwerwiegende Störungen der Lebensmittelversorgung gebe. Jedenfalls habe der Antragsteller entgegenstehende Anhaltspunkte nicht glaubhaft gemacht. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass zeitweise besonders nachgefragte Lebensmittel vergriffen seien, es sei dem Antragsteller in diesem Fall jedoch zuzumuten auf andere noch verfügbare Lebensmittel zurückzugreifen oder auf andere als die gewohnten Einkaufsgeschäfte auszuweichen. Dies führe zwar zu einem zusätzlichen Zeitaufwand. Dieser sei dem arbeitssuchenden Antragsteller, dem allein die Pflicht obläge, seine Hilfebedürftigkeit zu beenden oder zu verringern (§ 2 Abs. 1 SGB II), indes zumutbar. Sollte es dennoch zu höheren Kosten kommen, lägen diese allenfalls im Bereich weniger Euro. Diese Kosten seien aus dem Regelbedarf zu decken, wobei zu berücksichtigen sei, dass viele im Regelbedarf enthaltene Kosten aktuell nicht oder nur eingeschränkt anfallen würden (41,43 EUR für Freizeit, Unterhaltung, Kultur; 35,99 EUR für Verkehr; 10,76 EUR für Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen).

Schließlich führt das Sozialgericht aus, dass zusätzliche Aufwendungen für Hygieneartikel, Schutzmasken bzw. -kleidung keinen unabweisbaren Bedarf darstellen. Die Aufwendungen für Seife und vergleichbare Reinigungsmittel seien bereits im Regelbedarf enthalten. Darüber hinaus gebe es für die Zivilbevölkerung keine allgemeine Empfehlung, spezielle Schutzmasken oder -kleidung (z.B. FFP3-Masken) zu tragen. Es gelte allein die Empfehlung, im öffentlichen Raum zum Schutz Dritter, Stoffmasken zu tragen, die eine Ausbreitung von Tröpfchenpartikeln durch Husten, Niesen und Aussprache verringern. Hierzu seien aus Baumwolle selbst geschneiderte Masken, Schals und Tücher ausreichend. Durch die Anschaffung einer entsprechenden Maske entstünden dem Antragsteller daher keine übermäßigen Kosten.

Praxishinweis

1. Der Entscheidung des Sozialgerichts hinsichtlich der Entstehung von Mehrbedarfen durch die Krise ist im Ergebnis zuzustimmen. Die Bildung eines Lebensmittelvorrates wurde durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bereits weit vor dem Beginn der Corona-Pandemie empfohlen. Bereits in den Jahren 2017 und 2018 klagten einige SGB II-Leistungsbezieher erfolglos auf Gewährung eines Mehrbedarfes bzw. Darlehns zur Bildung eines Notvorrates (vgl. SG Konstanz, FD-SozVR 2017, 392501; LSG Baden-Württemberg, BeckRS 2018, 26691; LSG Niedersachen-Bremen, BeckRS 2018, 28725). Weder die erstmalige Bildung eines Notvorrates noch die Aufrechterhaltung dessen, berechtigen zu einem über den Regelsatz hinausgehenden Grundsicherungsbezug. Denn die erstmalige Bildung eines Notvorrats muss gerade nicht in einem einzigen Einkauf stattfinden. Vielmehr kann ein SGB II-Leistungsbezieher, der sich dazu entscheidet, der Empfehlung des Bundesamtes zu folgen, einen Vorrat schrittweise durch regelmäßigen Mehreinkauf aufbauen. Hierdurch entsteht gleichwohl kein laufender Mehrbedarf zur Aufrechterhaltung des Notvorrates. Stattdessen ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller die bevorrateten Lebensmittel vor dem Erreichen ihres Mindesthaltbarkeitsdatums verbrauchen kann. Dementsprechend führt die Bildung eines Notvorrates allein zur zeitlichen Vorverlagerung der für Lebensmittel entstehenden Kosten. Das Gleiche gilt für die Corona-Pandemie.

 2. Nicht nachzuvollziehen ist jedoch das Argument des Sozialgerichts, der Antragsteller, der als Arbeitssuchender über genügend freie Zeit verfüge, könne, für den Fall, dass günstige Lebensmittel in einem Supermarkt vergriffen seien, schlicht in anderen Geschäften nach entsprechend günstigen Produkten suchen. Eine solche „Empfehlung“ widerspricht gerade diametral den Zielsetzungen sämtlicher rechtlicher Corona-Verordnungen. Diese zielen durch die Einschränkung des öffentlichen Lebens gerade darauf ab, menschliche Kontakte soweit wie möglich einzuschränken, um eine Verbreitung des Virus einzudämmen. Die Suche nach günstigen Lebensmitteln in verschiedenen Einkaufsmärkten durch den Antragssteller birgt damit die Gefahr, ihn zum Boten des Virus in sämtlichen Supermärkten zu machen, und setzt ihn selbst dabei einer erhöhten Ansteckungsgefahr aus, indem es ihm erschwert wird, seine gesellschaftlichen Kontakte zu beschränken. Im Ergebnis wird durch diese Argumentation des Gerichts nicht nur das Ziel der aktuellen Maßnahmen konterkariert, sondern auch der Gesundheitsschutz der Ärmsten der Gesellschaft, die auf den Kauf günstiger Lebensmittel angewiesen sind, am weitesten hintenangestellt.

3. Ebenfalls nicht überzeugend ist der weitere Hinweis des Gerichts, der Antragsteller könne aufgrund der Krise entstehende mögliche Mehrausgaben für Lebensmittel aus anderen Abteilungen des Regelbedarfs decken, da Kosten für Freizeit; Unterhaltung, Kultur, Verkehr sowie Gaststättendienstleistungen aufgrund der aktuellen Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens ohnehin nicht anfielen. Diese Argumentation lässt außer Acht, dass auch zur aktuellen Zeit der sozialen Isolation die Bedarfe zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben fortbestehen. Statt den Kosten für ein Kino- oder Restaurantbesuch fallen nunmehr etwa Kosten für die Onlineausleihe von Filmen oder Büchern sowie eine Essensbestellung an. Außerdem ist zu erwarten, dass zur Aufrechterhaltung sozialer Kontakte die Kosten für Kommunikation (Telefon oder Post) ansteigen werden. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die im Rahmen der Corona-Pandemie ergriffenen politischen Maßnahmen zur erheblichen Erschwerung der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Kontakte geführt haben, der Mensch aber notwendigerweise in seinen sozialen Bezügen existiert, ist es nicht hinnehmbar, die Ausgaben für soziokulturelle Bedarfe zu Gunsten der Deckung des Bedarfs der physischen Existenz zu beschränken.

4. Letztlich ist daher hinsichtlich der Frage, ob die Corona-Pandemie zu Mehrbedarfen im Grundsicherungsrecht geführt hat, maßgeblich, ob die Krise zu einer wesentlichen Erhöhung der Lebensmittekosten geführt hat, sodass die der Regelbedarfsermittlung zugrundliegende Einkommens- und Verbraucherstichprobe keine verlässliche Grundlage mehr bilden kann. Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung waren hierfür, wie das Sozialgericht mit Hinweis auf offizielle Stellungnahmen deutlich gemacht hat, weder Anhaltspunkte ersichtlich noch glaubhaft vorgetragen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass dies langfristig bei Fortdauer des Krisenzustandes in einem möglichen Hauptsacheverfahren anders beurteilt werden müsste.

5. Das SG Düsseldorf hat einem Obdachlosen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zugesprochen, der wegen der Ausreisesperre das Land nicht verlassen kann (SG Düsseldorf, BeckRS 2020, 5892).

SG Konstanz, Beschluss vom 02.04.2020 - S 1 AS 560/20, BeckRS 2020, 4867