Kolumne
Schariavorbehalt
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Ein viral verbreitetes Video sorgte jüngst für Aufregung bei Millionen schockierter Internetnutzer weltweit. Es zeigt einen jungen Mann, der auf dem Berliner Alexanderplatz freimütig erklärt: „Jeder, der sich als Muslim bezeichnet, muss die Scharia wollen, auf der ganzen Welt! Ich will die Scharia in Deutschland, auf jeden Fall!“ Auf Nachfrage bestätigt er, dass es eine islamische Pflicht sei, auch Deutschland einzunehmen, „wenn es sein muss mit Gewalt!“

4. Dez 2023

Die Scharia als das aus dem Koran und der Sunna abgeleitete islamische Rechtssystem regelt das Zusammenleben in vielen islamischen Staaten weltweit. Da sie nicht kodifiziert ist, hängt ihre Ausgestaltung von der Interpretation islamischer Gelehrter ab, weshalb die regionale Umsetzung je nach Tradition unterschiedlich ausfallen kann. Nach isla­mischer Auffassung ist Allah der oberste Gesetzgeber. Ein säkulares Rechtsverständnis mit dem Volk als Souverän ist nach dieser Lesart ausgeschlossen. In der wörtlichen Auslegung der Ursprungstexte, wie sie in Staaten wie Saudi-Arabien, Pakis­tan oder Afghanistan gepflegt wird, bringt die Scharia jene drakonischen Körperstrafen hervor, für die sie allgemein bekannt ist: Dieben droht das Abhacken einer Hand, für die Abwendung vom Glauben ist die Hinrichtung durch Kreuzigung vorgesehen. Für den Umgang mit Homo­sexuellen kennt die im Iran gepflegte Form der Scharia das Erhängen am Baukran, während Afghanistan die Steinigung bevorzugt.

All das ist mit dem westlichen Verständnis der Menschenwürde ­unvereinbar. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) entschloss sich deshalb im Jahr 1990 dazu, ein muslimisches Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu vereinbaren: die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam. Die Hauptleistung des Schriftstücks mit dem hoffnungsvollen Titel ist es, den Herrschaftsanspruch der Scharia in eine zeitgemäße Sprache zu übersetzen. So ist es laut Kairoer Erklärung verboten, „Leben zu nehmen, es sei denn aus einem von der Scharia vorgeschriebenen Grund“. Jeder Schutz des Individuums, jede ihm eingeräumte Freiheit steht demnach unter dem Vorbehalt der Scharia, an deren unverrückbaren Grundsätzen die neu formulierten Rechte zu Staub zerfallen. Moderater gibt sich da scheinbar die 2008 von der Arabischen Liga (LAS) beschlossene Arabische Charta der Menschenrechte. In ihr wird der Begriff nur noch dazu verwendet, die zugesicherte Gleichberechtigung der Geschlechter in den „Rahmen der positiven Diskriminierung zugunsten von Frauen durch die islamische Scharia“ zu setzen (Art. 3 III). Um den Zynismus zu komplettieren, verzichtet die Charta keineswegs auf die zahlreichen weiteren Schariabezüge: Sie sind jetzt nur besser versteckt, in der Prä­ambel, die sich ihrerseits ausdrücklich auf die Kairoer Erklärung der Menschenrechte beruft. – „Wir wollen einen Islam, der auf der Grundlage des Grundgesetzes basiert und natürlich grundgesetzkonform ist“, hatte ­Angela Merkel (CDU) 2018 verkündet. Ob das funktionieren wird?

Dr. h.c. Gerhard Strate ist Rechtsanwalt in Hamburg und einer der renommierten​ Strafverteidiger des Landes.