Kolumne
Schuldenbremse scharf gestellt?
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© Nicola Quarz

Die Corona-Pandemie gilt als überwunden, bedarf aber weiterhin rechtlicher Aufarbeitung, nicht zuletzt für künftige Krisenbewältigung. Gebote kennt auch die Not – auch wenn dies im Rettungstaumel von Banken-, Staatsschulden- und Eurokrise mitunter anders gesehen wurde. Nicht nur intensive Freiheitsbeschränkungen waren eine Herausforderung für das Verfassungsrecht. Zum zweiten Mal binnen Jahresfrist hatte der Zweite Senat des BVerfG sich mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und mit Maßnahmen zu deren Bewältigung zu befassen.

27. Nov 2023

Nach dem Urteil zum EU-Wiederaufbaufonds NGEU vom 6.12.​2022 (NJW 2023, 425) ging es nunmehr im Urteil vom 15.11.​2023 um die Schuldenbremse und deren Umgehung durch den Nachtragshaushalt 2021 (BeckRS 2023, 31615). Die Fälle weisen Parallelen auf. Mit dem erklärten Ziel, wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise abzumildern und die Resilienz der Volkswirtschaften zu stärken, sollten Schulden in großem Maßstab aufgenommen werden, dies in beiden Fällen auf brüchiger Rechtsgrundlage. So sah auch die Senatsmehrheit im Urteil zum Verschuldungsprogramm NGEU dessen Vereinbarkeit mit Unionsrecht, insbesondere dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als durchaus fraglich, aber zumindest „nicht offensichtlich ausgeschlossen“ und konnte es so vermeiden, sich festzulegen – das BVerfG übt seine Kontrollkompetenz gegenüber Akten der EU bekanntlich europarechtsfreundlich und zurückhaltend aus. Frei von derartigen Pflichten zur Rücksichtnahme konnte es im Urteil zum Nachtragshaushalt dessen Verfassungswidrigkeit uneingeschränkt bejahen. Wie es für eine Abweichung von der Schuldenbremse einen hinreichend dargelegten „Veranlassungszusammenhang“ zwischen der „Notlage“ des Art. 115 II 6 GG, also der Pandemie und der Verschuldung vermisst, so äußerte es auch im Urteil zum Verschuldungsprogramm der EU Zweifel am Zusammenhang mit den Folgen der Pandemie. In beiden Fällen waren es jeweils vor allem die Allzweckwaffen Klimaschutz und Digitalisierung, die diese „Kausalitätsbeziehung“ herstellen sollten.

Hat der Senat damit die Schuldenbremse des Grundgesetzes zunächst gestärkt, so belässt er dem Gesetzgeber doch hinreichenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum in der Frage eines „Veranlassungszusammenhangs“, dem eine eingeschränkte Kontrolldichte entspricht. Letztlich wird es also darauf ankommen, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit der Verschuldung hinreichend plausibel begründen muss. Ob damit die Schuldenbremse tatsächlich „scharf gestellt“ wurde, wie ein Kommentator meinte, ist nicht ausgemacht. Ob sie ökonomisch sinnvoll ist, ist keine Frage des Verfassungsrechts – wohl aber, dass sie in ihrer jetzigen Fassung geradezu einlädt zu Umgehungen, die das BVerfG, wie schon seinerzeit zur Parteienfinanzierung, auf Dauer nicht wird verhindern können. Sollte das Urteil dazu beitragen, dass der ausgabenfreudige Staat sich verstärkt auf seine Kernaufgaben wie die geradezu sprichwörtlichen „Straßen, Schulen und Krankenhäuser“ besinnt, dann wäre es tatsächlich zukunftsweisend.

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Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie​ Medienrecht an der Universität Leipzig..