NJW: Sie haben Ihre juristische Karriere in einer internationalen Kanzlei begonnen. Warum erschien Ihnen die Arbeit bei der söp attraktiver?
Berlin: Der Wechsel vor 14 Jahren reizte mich gleich aus mehreren Gründen: Zunächst versprach die Mitarbeit im kleinen Gründungsteam der söp viel kreativen Gestaltungsfreiraum jenseits eingefahrener Strukturen und Abläufe. Zudem suchte ich nach einer gesellschaftlich sinnstiftenden Aufgabe, weshalb mir die einvernehmliche Streitbeilegung in Verbraucherkonflikten attraktiv erschien. Schließlich hatte ich mich bereits im Referendariat mit Mediation befasst und interessierte mich seitdem für die Methoden der alternativen Streitbeilegung.
NJW: Gemeinhin bringt man die söp mit verärgerten Bahnkunden in Verbindung. Die machen aber nur einen Teil Ihrer „Kundschaft“ aus, richtig?
Berlin: Bahnreisen und ÖPNV bildeten unseren anfänglichen Schwerpunkt. Dies änderte sich 2014 mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Schlichtung im Luftverkehr. Seitdem müssen alle in Deutschland operierenden Fluggesellschaften ihren Reisenden ein unabhängiges Schlichtungsverfahren anbieten. Mittlerweile werden rund 80 % unserer Schlichtungsanträge von Flugreisenden gestellt. Auf Bahn und ÖPNV entfallen derzeit rund 15 % der Eingänge. Die übrigen Fälle betreffen Fernbus, Schiff, Reisevermittler und Pauschalreisen.
NJW: Können Sie unseren Lesern den Ablauf eines Schlichtungsverfahrens kurz erläutern, auch in zeitlicher Hinsicht?
Berlin: Schlichtung soll unkompliziert und effizient sein. Das beginnt mit dem Schlichtungsantrag auf unserer Webseite, wo wir die je nach Fallkonstellation relevanten Daten formlos abfragen. Rund die Hälfte der Verfahren lassen sich binnen weniger Wochen, mitunter sogar innerhalb weniger Tage frühzeitig im Rahmen unserer ersten Verfahrensstufe als „early settlement“ lösen. Eine solch schnelle Einigung setzt voraus, dass das Unternehmen die Forderung unmittelbar anerkennt oder dass sich die Parteien auf der Grundlage eines im Schlichtungsverfahren unterbreiteten Angebots des Unternehmens einigen. In den verbleibenden Fällen prüfen unsere spezialisierten Volljuristinnen und -juristen gutachterlich die jeweils in Betracht kommenden Rechtsansprüche und schreiben dazu eine Schlichtungsempfehlung. Die Parteien haben dann 14 Tage Zeit, diese Empfehlung anzunehmen oder abzulehnen.
NJW: Wie viele Schlichtungsanträge gehen bei Ihnen ein und wie hoch ist die durchschnittliche Einigungsquote, die mit Ihrer Hilfe erzielt wird?
Berlin: Unser Falleingang ist über die Jahre stark angestiegen, für 2023 erwarten wir etwa 40.000 Schlichtungsanträge. Die Einigungsquote liegt weitgehend stabil zwischen 80 und 90 %.
NJW: Wie kommen Ihre Schlichtungsvorschläge zustande?
Berlin: Ausgangspunkt ist für uns immer das Recht. Wir sind von der Bundesregierung als Verbraucherschlichtungsstelle nach dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz anerkannt und müssen daher zwingende Rechtsvorschriften beachten. Wenn ein Anspruch eindeutig besteht, dann schlagen wir diesen auch in vollständiger Höhe vor. Es gibt also keinen pauschalen „Schlichtungsrabatt“. Wenn kein Anspruch besteht und auch sonst keine besonderen Gründe für Kulanzlösungen im Einzelfall sprechen, dann beenden wir das Verfahren mit einer ausführlichen Begründung, warum kein Anspruch besteht. Ausgangspunkt für die Tatsachenfeststellung ist der Parteivortrag, den wir mit Recherchen ergänzen, unter anderem über spezielle Datenbanken. Eine dem Gerichtsverfahren vergleichbare Beweiserhebung findet hingegen nicht statt, so dass gegebenenfalls verbleibende Zweifel je nach Darlegungs- und Beweislast in den Schlichtungsvorschlag „eingepreist“ werden. Auch bei streitigen, höchstrichterlich noch ungeklärten Rechtsfragen kommen Quotenlösungen in Betracht. Wichtig ist uns dabei, die bestehenden rechtlichen Unsicherheiten sowie die jeweils für und gegen eine Lösung sprechenden Argumente transparent in der Schlichtungsempfehlung aufzubereiten. Dadurch können die Parteien im Sinne einer „informierten Autonomie“ selbst entscheiden, ob sie auf Grundlage unserer Empfehlung ihren Streit beilegen wollen oder eine gerichtliche Klärung bevorzugen. Eine exemplarische Auswahl von Schlichtungsempfehlungen findet sich anonymisiert auf unserer Webseite.
NJW: Winken die Verkehrsunternehmen Ihre Vorschläge durch oder unterziehen sie diese einer eigenen Prüfung?
Berlin: Das ist unterschiedlich. In den Anfangsjahren wurden unsere Schlichtungsempfehlungen von den Unternehmen noch sehr genau geprüft. Mittlerweile ist das Vertrauen in unsere Arbeit gefestigt, so dass einige große Unternehmen unsere Schlichtungsempfehlungen sogar pauschal annehmen.
NJW: Wie setzt sich Ihr Team fachlich zusammen?
Berlin: Unsere rund 25 Volljuristinnen und -juristen machen etwa die Hälfte unseres Teams aus. Dieses vergleichsweise hohe Qualifikationsprofil dient der juristischen Präzision unserer Schlichtungsempfehlungen. Die weiteren Kolleginnen und Kollegen verantworten beispielsweise die Falladministration oder vermitteln Einigungen ohne materiell-rechtliche Prüfung als early settlement (sofortige Anerkenntnisse, Moderation).
NJW: Neben der außergerichtlichen Streitbeilegung soll die söp außerdem die Kundenzufriedenheit mit dem jeweiligen Verkehrsunternehmen wiederherstellen bzw. stärken. Ist das nicht deren ureigene Aufgabe?
Berlin: Natürlich streben die Unternehmen aus eigenem Interesse eine hohe Kundenzufriedenheit an. Die meisten Streitigkeiten werden entsprechend bilateral zwischen Unternehmen und Kunden gelöst. Im Massengeschäft Reise und Verkehr kann die unternehmenseigene Bearbeitung jedoch an Grenzen stoßen. Mitunter ist auch das Vertrauen in das Unternehmen beschädigt und Reisende wenden sich an die söp mit der Bitte um eine externe, unabhängige Einschätzung. Insofern verstehen wir uns auch als ein ergänzendes Auffangnetz für den Eskalationsfall.
NJW: Bei Nachbarschaftstreitigkeiten sehen manche Bundesländer ein verbindliches, außergerichtliches Schlichtungsverfahren vor, bevor Klage erhoben werden kann. Wäre das nicht auch bei den gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Reisenden und Verkehrsunternehmen sinnvoll?
Berlin: Die Verbraucherschlichtung in Deutschland beruht auf der europäischen ADR-Richtlinie 2013/11/EU. Diese legt fest, dass der Zugang zum Gericht durch Schlichtung nicht eingeschränkt werden darf. Insofern muss eine Klage jederzeit möglich sein, auch vor einem Schlichtungsverfahren.
NJW: Sie arbeiten unter anderem eng mit der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin zusammen. Wie läuft diese Kooperation konkret ab und inwiefern profitiert Sie und Ihre Kollegen davon?
Berlin: Die söp kooperiert mit der HU Berlin und weiteren Hochschulen. Unser Ziel ist es dabei primär, die alternative Streitbeilegung im Allgemeinen und die Verbraucherschlichtung im Besonderen bekannter zu machen. Konkret halten wir beispielsweise Vorlesungen, laden Studierende zu Fallstudien ein oder betreuen Abschlussarbeiten. Angesichts unseres anhaltend hohen Falleingangs freuen wir uns zudem, wenn sich aus diesen institutionellen Kooperationen auch eine persönliche Zusammenarbeit ergibt – sei es im Rahmen einer studentischen Mitarbeit, zur Überbrückung der Wartezeit auf das Referendariat oder nach dem Zweiten Staatsexamen als Berufseinstieg.
Dr. Christof Berlin ist Leiter der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (söp). Vor seiner Tätigkeit bei der söp arbeitete er als Rechtsanwalt im öffentlichen Wirtschaftsrecht bei Linklaters in Berlin. Er studierte Rechts- und Politikwissenschaft in Potsdam, Berlin und Paris. Zudem absolvierte er einen Master in Mediation in Frankfurt/Oder, wo er auch zur Verbraucherstreitbeilegung in Europa promovierte. Die Stärkung alternativer Streitbeilegung liegt ihm am Herzen, weshalb er sich zu diesem Thema in der Ausbildung und publizistisch engagiert.
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