Interview
Menschenrechtslage in Deutschland
Interview
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Anfang Dezember 2023 hat das Deutsche Institut für Menschenrechte seinen jährlichen Bericht über die Entwicklung der Menschenrechte in Deutschland an den Bundestag übergeben; er umfasst den Zeitraum vom 1.7.​2022 bis 30.6.​2023. Wir haben uns mit der Direktorin des Instituts, Prof. Dr. Beate Rudolf, über die Situation der Menschenrechte in Deutschland unterhalten und wollten von ihr wissen, welche Bereiche im Berichtszeitraum eine besonders hohe menschenrechtliche Relevanz hatten.

17. Jan 2024

NJW: Vor rund einem Monat hat Ihr Institut den nunmehr achten Bericht zur Lage der Menschenrechte in Deutschland veröffentlicht. Auf welcher rechtlichen Grundlage erfolgt diese Berichterstattung, und auf welche Datenquellen greifen Sie zurück?

Rudolf: Gemäß dem Gesetz über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) ist das Institut die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands und hat die Aufgabe, zu Förderung und Schutz der Menschenrechte in und durch Deutschland beizutragen. Hierzu führen wir anwendungsorientierte Forschung durch und beobachten und bewerten die Einhaltung und Umsetzung der von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsverträge. Auf dieser Grundlage beraten wir die Politik in Bund und Ländern und fördern Menschenrechtsbildung. Zu unserem gesetzlichen Auftrag gehört deshalb auch die jährliche Berichterstattung an den Bundestag über die Menschenrechtslage in Deutschland. Für unsere Berichte führen wir eigene Untersuchungen durch und werten öffentlich verfügbare Statistiken, Dokumente und Studien, darunter auch Drucksachen des Bundestags und der Länderparlamente, sowie Medienberichte aus.

NJW: Wie bewerten Sie aktuell die Situation der Menschenrechte in Deutschland? Insbesondere: In welchen Bereichen haben Sie im Berichtszeitraum die gravierendsten Defizite beobachtet?

Rudolf: Die Menschenrechtslage in Deutschland betrifft ein sehr großes Spektrum von Politikfeldern. Denn es geht um bürgerliche und politische Menschenrechte ebenso wie um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte. Und es geht um das Diskriminierungsverbot in seiner ganzen Breite und damit um Rassismus und Antisemitismus, Geschlechtergleichheit, Rechte von Menschen mit Behinderungen und Kinderrechte. Deshalb greift das Institut jedes Jahr in seinem Menschenrechtsbericht einzelne Bereiche heraus. Über die Jahre ergibt sich so ein Gesamtbild über menschenrechtliche Herausforderungen in Deutschland und den Umgang mit ihnen. In diesem Jahr haben wir über Risiken rassistischer Diskriminierung durch polizeiliche Datenverarbeitung berichtet, über den unzureichenden Schutz von Frauen mit prekärem Aufenthaltsstatus, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, Präventivhaft gegen Klimaaktivistinnen und -aktivisten, die Gefährdung des Menschenrechts auf Wohnen von alten Menschen und Menschen mit Behinderungen durch die große Versorgungslücke beim barrierefreien Wohnraum, die gebotene Stärkung des gesetzlichen Schutzes vor Diskriminierung aufgrund einer Behinderung sowie das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Partizipation.

NJW: Lassen Sie uns zunächst über die Risiken rassistischer Diskriminierung durch polizeiliche Datenverarbeitung sprechen. Was lag da aus Ihrer Sicht im Berichtszeitraum im Argen?

Rudolf: Wir haben untersucht, wo das Risiko rassistischer Diskriminierung besteht, wenn die Polizei personenbezogene Daten erhebt und nutzt. Gemäß der EU-Richtlinie zum Datenschutz bei Polizei und Strafjustiz, der „JI-Richtlinie“, dürfen sogenannte sensible Daten nur unter strengen Anforderungen verarbeitet werden. Sensible Daten sind solche, aus denen etwa die Hautfarbe oder die vermeintliche „ethnische Herkunft“ hervorgeht. Wir mussten feststellen, dass diese Richtlinie in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt ist. Bund und Länder müssen klare und verbindliche Regeln zum Schutz sensibler Daten festschreiben. Problematisch ist auch, dass es Datenkategorien gibt, die rassistische Vorstellungen reproduzieren und verfestigen, etwa die Kategorien für „Phänotypen“. Da die Datenbestände im Rahmen des bundesweiten Projekts „P20“ in einem gemeinsamen „Datenhaus“ zusammengeführt und die Daten verstärkt durch „intelligente“ algorithmengestützte Analysen ausgewertet werden sollen, besteht hier dringend Handlungsbedarf.

NJW: Einen hohen Stellenwert nehmen im aktuellen Bericht auch – Sie erwähnten es bereits – die Aktionen der Klimaaktivisten ein. Inwiefern?

Rudolf: Wir haben im Bericht unseren Fokus auf die Präventivhaft gelegt. Denn Freiheitsentzug ist das schärfste Schwert des Rechtsstaats, und Präventivhaft gegen Klimaaktivistinnen und -aktivisten greift massiv in die Versammlungsfreiheit ein. Präventivhaft wird verhängt, um Straftaten zu verhindern. Sie muss verhältnismäßig sein. Friedliche Sitzblockaden sind von der Versammlungsfreiheit geschützt. Und eine Versammlung ist friedlich, wenn sie frei von „schwerwiegender Gewalt“ ist. Das bekräftigen internationale Menschenrechtsgremien. Präventivhaft ist danach nur als letztes Mittel zur Verhinderung von derartigen Gewaltakten zulässig. Störungen des Verkehrs stellen keine solch schwerwiegende Gewalt dar. Das müssen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über Präventivhaft berücksichtigen.

NJW: Sie thematisieren außerdem die politische Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen. In dem Zusammenhang ist neben der Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz die Absenkung des Wahlalters immer wieder in der Diskussion. Wie sehen Sie das?

Rudolf: Nach der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder und Jugendliche das Recht mitzubestimmen. Der Ausschluss einer bestimmten Gruppe von Staatsangehörigen vom Wahlrecht als der stärksten Form der Mitbestimmung ist, so das Bundesverfassungsgericht, immer wieder im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen zu überprüfen. Für die Europawahl und in mittlerweile sechs Bundesländern ist das Mindestwahlalter bereits auf 16 Jahre abgesenkt; Letzteres hat der UN-Kinderrechtsausschuss 2022 ausdrücklich gelobt. Jetzt sollten der Bund für die nächste Bundestagswahl und die übrigen Länder nachziehen. Wie Forschungen aus anderen Staaten zeigen, stärkt das auch die Wahlbeteiligung junger Menschen über die Erstwahl hinaus.

NJW: Ein großes Thema im vorletzten Bericht waren die Menschenrechte im Krieg bzw. die Auswirkungen des Kriegs gegen die Ukraine auf die Menschenrechte in Deutschland. Da dieser Aspekt im aktuellen Berichtszeitraum kaum weniger relevant gewesen sein dürfte, würden wir gern wissen, was Sie dazu herausgefunden haben.

Rudolf: Das Institut hat im Bericht 2022 zur stärkeren finanziellen Unterstützung der Kommunen für die Aufnahme aller Schutzsuchenden, einschließlich der ukrainischen Geflüchteten, aufgerufen. Noch bis in den November 2023 wurde darüber diskutiert. Wir beobachten mit großer Sorge, dass diese Debatte zu einer über die Abschreckung von Schutzsuchenden geworden ist. Dabei werden zentrale Erkenntnisse der Migrationsforschung ignoriert. Schutzsuchende wählen Deutschland keineswegs aufgrund der Sozialleistungen als Zielland aus. Wichtig sind ihnen stattdessen Familienbeziehungen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Besorgniserregend ist die Zunahme von Vorschlägen, die die grund- und menschenrechtlichen Bindungen Deutschlands missachten. Bestrebungen, Sozialleistungen für Asylsuchende noch länger abzusenken oder gar als Sanktion auf Null zu setzen, ist mit dem Bundesverfassungsgericht entgegenzuhalten: Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.

NJW: Lässt sich bereits heute absehen, welche Themen im Berichtszeitraum 1.7.​​2023 bis 30.6.​​2024 relevant werden?

Rudolf: Nein; die Themen des nächsten Berichts werden wir erst im Frühjahr festlegen.

Seit 2010 ist Prof. Dr. Beate Rudolf Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Sie studierte Jura in Bonn und Genf. Nach Zweitem Staatsexamen und Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin wirkte sie als Juniorprofessorin für Öffentliches Recht und Gleichstellungsrecht an der Freien Universität Berlin. Sie war unter anderem Vizepräsidentin der European Women Lawyers Association, langjähriges Mitglied der Kommission Völker- und Europarecht des Deutschen Juristinnenbundes und Präsidentin der Globalen Allianz der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen.

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Interview: Dr. Monika Spiekermann.