Interview
"Aussagen per Video genauso glaubwürdig"
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Die Ampelkoalition will gegen den Willen der Bundesländer eine elektronische Dokumentation zahlreicher Hauptverhandlungen in Strafprozessen einführen – zumindest per ­Mikrofon. Zudem möchte sie Videoverhandlungen in Zivilverfahren ausweiten. Erschwert das die Wahrheitsfindung? Fragen an die Rechtspsychologin Susanne Schmittat.

10. Jan 2024

NJW: Sie haben untersucht, ob und wie sich die Bewertung von Zeugenaussagen ändert, wenn man nicht selbst vor Ort ist. Wie sind Sie vorgegangen?

Schmittat: Wir haben eine zehnminütige Befragung zwischen einem erfahrenen Anwalt und einem echten Zeugen, also einer Person, die tatsächlich etwas erlebt hat, organisiert. Dies ist deswegen schon besonders, weil für diese Art von Forschung meistens Schauspieler engagiert werden, die dann eine echte Vernehmung oder eine Gerichtsverhandlung nachspielen. Unsere Befragung haben insgesamt 347 Jurastudierende in unterschiedlichen Konstellationen verfolgt: entweder live vor Ort im selben Raum; im Nebenraum mit einem vollständigen Livestream des Geschehens; oder später zuhause als Aufzeichnung. Davon gab es zwei Versionen: Eine Gruppe sah das Video inklusive einiger ­Minuten Small Talk zwischen Befrager und Zeuge, und die zweite Gruppe nur den „offiziellen“ Teil, also bloß die Befragung. Danach haben alle Teilnehmer einen Fragebogen ausgefüllt, in dem sie gebeten wurden, die Glaubwürdigkeit des Zeugen einzuschätzen und dies zu begründen. Außerdem wurden sie gefragt, wie sie einen etwaigen Befragungsdruck und die Atmosphäre wahrgenommen haben, ob der Zeuge auf sie nervös wirkte und ob sie sich gut auf die Befragung konzen­trieren konnten.

NJW: Was kam dabei heraus?

Schmittat: Zunächst hat uns überrascht, dass die physische Anwesenheit für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen irrelevant war. Die Studierenden, die die Befragung lediglich über Zoom, dafür aber auf einer großen Leinwand verfolgen konnten, beurteilten ihn als genauso glaubwürdig, die ­Befragungsatmosphäre als genauso professionell und das non-verbale Verhalten des Zeugen als genauso nervös wie jene, die physisch bei der Befragung anwesend waren. Lediglich ihre emotionale Beteiligung war geringer: Sie fieberten etwas weniger mit. Ähnlich fielen die Beurteilungen des aufgenommenen Videos aus, allerdings nur, wenn auch einige Minuten Small Talk gezeigt wurden. Wurden ­jedoch lediglich die reinen Befragungen präsentiert, dann wurde der Zeuge als weniger glaubwürdig bewertet, seine Körpersprache wirkte nervöser, und die Vernehmung wurde ebenfalls als weniger positiv evaluiert. Dies bedeutet aber nicht, dass man dem Zeugen gar nicht geglaubt hätte.

NJW: Wie erklären Sie sich diese Unterschiede?

Schmittat: Dass zwischen den Live- und den Live­stream-Gruppen fast kein Unterschied war, könnte daran liegen, dass die Livestream-Gruppe genau wusste, dass die Befragung im Nebenraum stattfindet. Diese räumliche und psychologische Nähe zum Geschehen könnte dem negativen Effekt von Videobefragungen, der in bisherigen Studien häufig gefunden wurde (nämlich, dass virtuelle Personen weniger real und authentisch wirken), entgegengewirkt haben. Das könnte ­außerdem die positive Bewertung des Videos mit Small Talk erklären, in dem der Zeuge realer gewirkt haben mag. Ebenfalls hat sich gezeigt, dass die sogenannte Fluency eine Rolle spielen könnte: Wenn weniger kognitiver Aufwand betrieben werden muss, um Informationen zu verstehen, ist es wahrscheinlicher, dass diese als glaubwürdig oder als richtig beurteilt werden. Je besser der Zeuge verstanden wurde, umso eher hat man ihm geglaubt; besonders gut hat man ihn in dem langen Video verstanden. Eine pauschale Ablehnung solcher Übertragungen scheint also zumindest aufgrund der vorhandenen Ergebnisse unbegründet zu sein.

NJW: Worauf kommt es bei der Bewertung von Zeugen bei Videoaufzeichnungen an?

Schmittat: Wenn wir die Forschungsergebnisse aus anderen Bereichen, zum Beispiel aus der Kommunikations­psychologie oder aus der Arbeits- und Organisationspsychologie näher betrachten, dann zeigt sich, dass der persönliche Eindruck, auch wenn er über Video gefällt wird, durchaus auch von technischen Einflüssen und den entsprechenden Einstellungen abhängt. Wenn die Qualität der Kamera oder des Mikrofons schlecht ist oder die Internetverbindung keine gute Übertragung zulässt, könnte dies die Bewertung negativ beeinflussen. Das hat die Psychologin Elena Bild mit einem Forscherteam aus den USA und Australien jüngst auch ­experimentell zeigen können: Wenn die Audioqualität durch Widerhall und Hintergrundgeräusche künstlich verschlechtert wurde, wurden Zeugen als weniger glaubwürdig, verlässlich und vertrauenswürdig eingeschätzt, und die Aussage hatte einen geringeren Beweiswert. Ähnliches gilt für die Ausleuchtung: Die ­Körpersprache ist in Videoübertragungen ohnehin nur beschränkt sichtbar (meist ist nur der Kopfbereich zu sehen), was im Vergleich zu einer persönlichen Begegnung zu negativeren Bewertungen führen kann. Wenn nun die Beleuchtung so ist, dass vielleicht bloß ein Teil des Gesichts gut zu erkennen ist (Schreibtischlampe an einer Seite) oder die Lichtquelle sogar von hinten kommt (Fenster im Rücken), dann wird dieser Aspekt noch verstärkt. Weitere Faktoren könnten der Kamera­winkel (signalisiert „soziale Macht“ durch Herauf- oder Herabblicken) oder das präsentierte Umfeld (Hintergrund) sein.

NJW: Was würden Sie auf dieser Grundlage dem deutschen Gesetzgeber empfehlen?

Schmittat: Für die aussagepsychologische Bewertung in Glaubhaftigkeitsgutachten reicht eine Tonaufzeichnung beziehungsweise ein Wortprotokoll, das auf deren Basis angefertigt werden könnte, aus, da nur inhaltliche Informationen analysiert werden, nicht die Körpersprache. Für uns ist wichtig, dass die Fragen und die dazugehörigen Antworten genau dokumentiert werden. Viele der Hauptverhandlungsprotokolle, die ich als Sachverständige gesehen habe, sind in diesem Punkt unzureichend. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass es in komplexen Situationen schwierig werden könnte, die Stimmen nachträglich den Personen zuzuordnen; da könnte eine Videoaufnahme helfen. Ob diese darüber hinaus sinnvoll ist, hängt davon ab, was damit bezweckt wird. Zum Beispiel ist die Lügendetektion anhand non-verbaler Merkmale bisher wissenschaftlich wenig fundiert: Es gibt keine universellen Anzeichen für Lügen – so kann es sein, dass zum Beispiel nervöses Wippen mit dem Fuß, Schwitzen oder eine Blickabwendung andere Gründe hat.

NJW: Gibt es denn überhaupt irgendwelche seriösen Merkmale, die zeigen, ob jemand lügt?

Schmittat: Die kurze Antwort: nein. Die lange Antwort: Die Forschung der letzten 30 bis 40 Jahre hat recht konstant gezeigt, dass es keine klaren non-verbalen oder paralinguistischen Merkmale gibt. Hier und da weisen zwar Studien darauf hin, dass einige Merkmale bei lügenden Personen stärker ausgeprägt sind. Aber letztendlich sind die gefundenen Zusammenhänge eher gering, und es gibt starke Schwankungen zwischen den Untersuchungen.

NJW: Was kann man aus den Erfahrungen in den USA lernen, wo sogar Verhöre durch die Polizei häufig in Bild und Ton aufgezeichnet werden?

Schmittat: Bei Befragungen von Beschuldigten hat sich in der Forschung gezeigt, dass Geständnisse als freiwilliger beurteilt werden, wenn nur die Person, die das Geständnis ablegt, zu sehen ist. Ist jedoch auch die befragende Person zu sehen, verändert sich diese Bewertung – denn dann sieht man den Anteil, den der Befrager hatte, besser. Dies ist besonders bei suggestiven Vernehmungen wichtig zu wissen oder bei solchen, in denen der psychische Druck sehr hoch ist. Auch hier beeinflusst also letztendlich die gewählte Perspektive – wer ist im Raum, wie ist die Körpersprache des Befragers? – die finale Bewertung.

NJW: Ihre Forschungen zu diesem Thema laufen weiter – was wollen Sie noch herausfinden?

Schmittat: Durch die Pandemie hat sich auch der Umgang mit und die Einstellung zu Videokonferenzen ­verändert. Diese neue Normalität könnte bedeuten, dass digitale Personen inzwischen nicht mehr so negativ beurteilt werden, wie es vor zehn bis 15 Jahren noch der Fall war. Aktuell führe ich gemeinsam mit ­einem großen Forscherteam aus Juristinnen und Juristen, Psychologen und Psychologinnen einige Studien dazu durch.

Privatdozentin Dr. Susanne Schmittat (geboren 1986 in Troisdorf) ist Senior Scientist am Institut für Strafrechtswissenschaften der Johannes Kepler Universität Linz. Den Master in Psychologie (Schwerpunkt: Rechts­psychologie) erwarb sie an der Universität Maastricht. Vor dem Wechsel nach Linz war sie bis 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Angewandte Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung an der Universität zu Köln. 2023 erfolgte die Habilitation für das Fach Psychologie.

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Interview: Joachim Jahn.