Interview
"Eskalierende Entbürokratisierungsbürokratie"
Interview
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Die Bundesregierung hat eine Entbürokratisierungsoffensive gestartet. Der Abbau von Bürokratie ist ein ewiges Versprechen der Politik, ebenso das Wehklagen der Wirtschaft über vermeintlich überbordende Regulierung. Wir haben Prof. Dr. Pascale Cancik von der Universität Osnabrück dazu befragt, warum ständig mit gleichen Argumenten und Vorschlägen Bürokratieabbau verlangt, aber offensichtlich nie erreicht wird.

6. Dez 2023

NJW: Die Bundesregierung hat ein Bürokratieentlastungsgesetz IV auf den Weg gebracht. Der Bundesjustizminister spricht von einem Bürokratie-Burnout der Wirtschaft. Ist es wirklich so schlimm?

Cancik: Glaubt man der Rhetorik der Interessenverbände und mancher Politiker, geht der deutsche Wirtschaftsstandort seit über 40 Jahren wegen „Bürokratie“ unter. Wirklich schlimm ist, dass diese Marketingrhetorik sachliche Analyse, transparente Diskussion und gute Verwaltungspolitik gefährden kann. Das beginnt bei der Frage, was jeweils überhaupt als Bürokratie verstanden wird. „Die“ Bürokratie, die in den Debatten aufscheint, kann ja ganz Unterschiedliches bezeichnen: Verwaltungspersonal, das Berufsbeamtentum an sich, Verwaltungsverfahren, Formulare, Informationspflichten, Regelungen usw.

NJW: Können Sie uns erklären, warum praktisch immer über zu viel Bürokratie geklagt und deren Abbau gefordert wird?

Cancik: Eine Erklärung ist der Wandel des bezeichneten Gegenstands bei – und das scheint zunächst paradox – gleichzeitiger Dauerhaftigkeit des damit beschreibbaren Problems. Das Wort Bürokratie ist im 18. Jh. im absolutistischen Frankreich als Spott- und Schimpfwort geprägt worden. Im 19. Jh. richtete es sich in Deutschland gegen monarchisches Beamtentum und obrigkeitsstaatliche Verwaltung. Diese herrschaftskritische Prägung, verbunden mit Ressentiments etwa gegen Beamte, Aktenförmigkeit und Regelbindung, transportiert das Wort seitdem immer mit. Es funktioniert als Markierung von etwas Unerwünschtem über ganz unterschiedliche Zeiten – konservativ-ständische Modernekritik, links-emanzipative Herrschaftskritik, wirtschaftsliberale Regulierungskritik, um einige zu nennen. Seit etwa 40 Jahren wird Bürokratie überwiegend mit wirtschaftsbezogener Regulierung gleichgesetzt. Zum mit Entbürokratisierung verbundenen Kontext gehört der zeitgenössische Dreiklang von Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung.

NJW: Wenn selbst die Politik regelmäßig der Auffassung ist, es gäbe zu viel Bürokratie, warum schafft sie dann überhaupt einen solchen Zustand?

Cancik: In der Frage steckt eine wichtige Erkenntnis: Wenn „Bürokratie“ Regulierung, also Rechtsvorschriften, meint, dann sind die Verursacher in der Politik, in den Parlamenten und Regierungen zu suchen. Die permanente Entbürokratisierungsrhetorik ist nicht zuletzt ein rhetorischer Versuch, diese Verantwortlichkeit zu verschleiern oder zu verschieben.

NJW: „Die“ Politik könnte ja Regulierung auch nicht einfach sein lassen.

Cancik: Rechtsetzung ist in einem demokratischen Rechtsstaat ein zentrales Instrument der Politik. Und die vorhandenen Regelungen sind vielleicht in Teilen nicht oder nicht mehr alle sinnvoll, aber sie hatten in der Regel einen sinnvollen Grund. Viele der von der Wirtschaft beklagten Pflichten dienen dem Arbeitsschutz, dem Umweltschutz, dem Verbraucherschutz, der Sicherung von Steuereinnahmen und so fort. Ihre zunehmende Komplexität hat nicht selten damit zu tun, dass die zu erreichenden Ziele aufgrund Umgehung bzw. Regelmissachtung verfehlt werden. Es gibt aber ohne Zweifel auch überschießende Misstrauensregulierung.

NJW: Es gab unzählige Arbeitskreise zum Bürokratieabbau und seit 2006 noch den Normenkontrollrat, zudem mehrere Bürokratieentlastungsgesetze. Ist das alles wirkungslos geblieben?

Cancik: Das hängt davon ab, was man als wirksam definiert. Das vage Versprechen Bürokratieabbau ist streng genommen unerfüllbar – sei es in Staaten, sei es in Unternehmen, die bekanntlich extrem bürokratisch sein können. Und wegen dieser Unerfüllbarkeit funktioniert es als populistischer Platzhalter auch so gut. Aber in den genannten Gesetzen sind durchaus zahlreiche Entlastungen zugunsten der Wirtschaft enthalten. Letztlich geht es aber eben oft um die Frage, ob der Gesellschaft mit dem geforderten Rückbau von Verbandsklagen, von Umweltschutzstandards, von Bürgerbeteiligung, von Rechtsschutz gedient ist. Den „Bürokratiekosten“ stehen möglicherweise „Bürokratiegewinne“ gegenüber, die nicht bilanziert werden.

NJW: Es wird allseits beklagt, dass die meisten Bürokratielasten maßgeblich auf EU-Rechtsetzung zurückgehen. Gibt es auf europäischer Ebene ein Bewusstsein dafür?

Cancik: Die EU-Kommission hat spätestens seit 2000 Entbürokratisierung intensiv thematisiert und mit Hilfe von Kommissionen bearbeitet. Ein bekanntes Beispiel ist die „Stoiber-Kommission“ und die meinungsstark sogenannte „Gurkenkrümmung-Verordnung“ – ein Beispiel eskalierender Entbürokratisierungsbürokratie. Es gibt mittlerweile eigene Handbücher zum Bürokratiecheck. In der EU werden entsprechende Praktiken seit einiger Zeit allerdings mit dem Label „smart –“ oder „better regulation“ versehen – vielleicht weil man verstanden hat, dass man unglaubwürdig wird, wenn man permanent Bürokratieabbau verspricht, hinterher aber immer noch Bürokratie da ist. Im Übrigen macht man es sich mit dem Verweis auf die EU etwas leicht.

NJW: Inwiefern?

Cancik: An der EU-Rechtsetzung wirkt deutsche Politik bekanntlich mit. Die EU als Bürokratisierungsmaschine hinzustellen, für die man gar nichts kann, ist insofern nur bedingt glaubwürdig. Aber natürlich stimmt der Befund, dass ein Großteil der Rechtsetzung mittlerweile auf EU-Ebene geschieht. Und deren Modus finaler Regulierung erhöht möglicherweise den Umsetzungsbedarf, weil er den Mitgliedstaaten Spielräume einräumt, die diese durch Regelungen ausfüllen – manchmal mit zusätzlicher unnötiger „Bürokratie“.

NJW: Aktuell richtet sich die Kritik auch gegen die Überfrachtung von Regelungen durch ausufernde Informations-, Dokumentations- und Aufsichtspflichten. Hat sich die Gesetzgebung insoweit verändert?

Cancik: Die Beobachtung eines „mehr“ dürfte zutreffen, und es gibt überbordende Informationslasten. Andererseits: Verwaltungen waren zur Erfüllung ihrer Aufgaben immer auf Informationen über das zu Verwaltende angewiesen, die sie nicht selbst generieren können. Je „schlanker“ der Staat sein soll, umso mehr muss Wissensgenerierung an die Privaten ausgelagert werden. Diese profitieren zugleich oft von entsprechenden Informationen oder sind die Verursacher der im Sinne des Gemeinwohls zu bewältigenden Lasten. Wer sollte denn sonst etwa den Einsatz von grundwasserbelastenden Düngemitteln, schädliche Emissionen oder die Zahl an Verkaufsvorgängen, die Besteuerungsgrundlage sind, dokumentieren? Ein Überwachungsstaat?

NJW: Was wären denn sinnvolle Maßnahmen, um Bürger und Wirtschaft wirkungsvoll zu entlasten?

Cancik: Von der Seitenlinie ist leicht reinrufen, dennoch einige Stichworte, nichts davon ist neu: Wir brauchen angesichts der Aufgaben ausreichend mit Personal, Fachkompetenz und Zeit ausgestattete Verwaltungen. Ein kluger Einsatz digitaler Technik ist ein weiterer Faktor. Die schon praktizierte Rechtsbereinigung ist, ebenso wie Rechtsvereinfachung auf ministerialer Ebene, eine Daueraufgabe. Sehr zu Recht wird seit langem klüger auf Vollzugsfähigkeit ausgerichtete Rechtsetzung gefordert. Dafür sind die Kommunen als Umsetzungsexperten besser einzubeziehen. Und wir brauchen mehr unabhängige Verwaltungspraxis-Forschung sowie seriöse Evaluation von Gesetzesfolgen, die nicht in der Schublade verschwinden, sondern als Erkenntnisquelle nutzbar sind. Nicht zuletzt – und ebenfalls nicht neu – ist Aufgabenkritik gefordert.

NJW: Bürokratie als Organisationsform ist ja letztlich auch Garant für verlässliche, nachvollziehbare und faire Entscheidungen. Besteht auch die Gefahr eines übertriebenen Bürokratieabbaus?

Cancik: Die Frage ist wegen des unklaren Bürokratieverständnisses missverständlich und pauschal nicht zu beantworten. Jetzt sprechen wir offenbar nicht mehr über ein Übel, sondern über Bürokratie als Kurzform für regelgeleitete, klar organisierte, verlässliche, nachvollziehbare Verwaltung. Die wird man vernünftigerweise nicht abbauen wollen. Gefährlich ist es, wenn aus demokratisch normaler und erforderlicher Verwaltungs- und Rechtskritik politspielerische Diffamierung wird. Wenn man materielle Schutzstandards abbauen will, dann muss das in einer Demokratie offen diskutiert werden. Wenn nur mit Entbürokratisierungsrhetorik Wahlerfolge erzielbar sind, ist das eben auch ein Defizit der mündigen Gesellschaft.

Prof. Dr. Pascale Cancik ist an der Universität Osnabrück Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Geschichte des europäischen öffentlichen Rechts und für Verwaltungswissenschaften.

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Interview: Tobias Freudenberg.