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KI in menschengemachter Justiz
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Die Nutzung von KI-Tools etwa bei Fluggastrechteklagen und in Diesel-Fällen liefert erste Erfahrungen im Umgang mit KI in der Justiz. ChatGPT hat nun generative KI schlagartig populär gemacht. Auch diese Technologie hat großes Potenzial, wenn der Mensch und die Daten der Justiz in den Mittelpunkt der KI-Strategie gerückt werden.

29. Nov 2023

Wenn man das Potenzial und die Einsatzfelder von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Justiz betrachtet, richtet sich das Augenmerk derzeit vor allem auf die Ver­arbeitung von Texten. Das Rechtswesen gilt als eine der größten "textverarbeitenden Industrien" überhaupt. Sprache, Dokumente, Texte sind der Rohstoff anwalt­licher und richterlicher Arbeit – und KI mit seiner Fähigkeit, natürliche Sprache zu verstehen, erlaubt die Kernarbeit der Justiz, sozusagen die Produktionsprozesse der Analyse, Erstellung und Archivierung von Texten vollends neu zu denken.

Die bereits im Bereich der Fluggastrechteklagen und in Diesel-Fällen eingesetzten KI-Tools (Olga u.a.) nutzen bereits Modelle, die natürliche Sprache verstehen (Natural Language Understanding – NLU). Es wird ein vortrainiertes Sprachmodell eingesetzt, das unmittelbar nutzbar ist. So erkennt das Modell beispielsweise bei einer Suchfrage an eine Klageschrift mit typischerweise vielen Datumsangaben das richtige Datum, wenn man fragt: "Wann hat der Kläger das Auto erworben?"

Für die Einsatzbereiche wie Fluggastrechte, Diesel-­Klagen oder Anonymisierung wurde dieses Modell jeweils zusätzlich mit spezifischen Schriftsätzen trainiert, um die verfahrensrelevanten Informationen zu erkennen und zu verarbeiten. Die KI-Tools sind nun in der Lage, über Verständnis des Textkontexts den relevanten Motortyp in den Schriftsätzen zu identifizieren. Dies erfordert ein Maß an Training mit gelabelten Daten ("supervised" Training mit Datenmengen im unteren Hunderterbereich). Diese Lösungen sind für die jeweilige Aufgabe sehr effizient, da sie an den spezifischen Pro­blemstellungen im Umgang mit Schriftsätzen innerhalb des Rechtsgebiets (aus Sicht der Richterschaft die "größten Schmerzpunkte") ausgerichtet sind. Für derartige KI-Anwendungsszenarien ist der Einsatz großer Sprachmodelle (LLMs) nicht notwendig, ja eher ­unverhältnismäßig.

Generative KI setzt auf LLMs auf und ist in der Justiz grds. überall dort denkbar, wo Texte erstellt oder sinnvoll gebraucht werden. Das Spektrum der "Textproduktion" ist breit und vielfältig. Es reicht von allgemeinen Mitteilungen (zB Presse) über standardisierte Beschlüsse bis hin zu entweder massenhaft ähnlichen oder hoch individuellen, komplexen richterlichen Urteilen. Die Frage, welche Modelle in welchen Aufgabenbereichen unter welchen Voraussetzungen zum Einsatz kommen, wird unterschiedlich zu beantworten sein. Dabei sind zwei Einflussfaktoren besonders entscheidungsrelevant.

Mensch als Faktor: Generative KI erweitert die menschlichen Fähigkeiten, indem sie auf eine denkbar einfache Frage-Antwort-Weise die Automatisierung sich wiederholender Aufgaben (hier der Texterstellung) ermöglicht. Die Assistenzfunktion der KI für die Richterschaft (oder die Servicestelle) gewinnt mit generativer KI noch stärker an Bedeutung. Damit wird der Beschäftigte zum ­Erfolgsfaktor einer KI-Strategie, denn dieser wird über den zielgerichteten und sinnvollen Einsatz von KI maßgeblich mitentscheiden.

Daten als Schlüssel: Bereits heute liefert ChatGPT überzeugende Zusammenfassungen längerer Texte. Wenn man jedoch an eine Zusammenfassung von Schrift­sätzen eines beispielsweise laufenden Zivilverfahrens denkt, stellen sich deutlich höhere Anforderungen an eine generative KI. Es bedarf Lösungen, bei denen Klarheit und Sicherheit in der Verarbeitung der Justizdaten besteht, beispielsweise durch deren Betrieb im eigenen Rechenzentrum. Außerdem ist der Wert von kuratierten LLMs hervorzuheben, bei denen Transparenz und Klarheit über die zugrunde liegenden Trainingsdaten gegeben ist und Risiken von Halluzination, Bias sowie Haftungsfragen minimiert sind. Denkt man dies nun so weiter, dass diese LLMs in naher Zukunft auf den eigenen Daten der Justiz forttrainiert ("finetuning") werden können, lässt sich schnell erkennen: Generative KI eröffnet das Potenzial, nach Anweisung des Richters und der Richterin hochwertige Schriftsätze zu schreiben.

Generative KI wird die menschengemachte Justiz nicht ersetzen, sie wird aber die Art und Weise, wie Justiz von Menschen gemacht wird, verändern. Daher müssen der Mensch und die Daten der Justiz ("Governance") in den Mittelpunkt einer KI-Strategie der Justiz gerückt werden, nicht allein die Technologie bzw. der Algorithmus.

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Eckard Schindler ist Direktor für den Öffentlicher Sektor​ bei der IBM Deutschland, Hamburg.