NJW-Editorial
Wenn schon – denn schon
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Im Vergleich zu anderen obersten Staatsorganen behandelt das Grundgesetz das BVerfG stiefmütterlich, indem es sich auf die Aufzählung der Zuständigkeiten und wenige Vorgaben zur Zusammensetzung beschränkt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bereits in den 70er-Jahren Änderungen von Art. 94 GG vorgeschlagen wurden.

6. Jun 2024

In der jüngeren Vergangenheit sorgten die Versuche des "illiberalen Demokraten" Viktor Orban und der polnischen PIS, das jeweilige Verfassungsgericht aus- bzw. gleichzuschalten, sowie das Erstarken populistischer Parteien auch in unserem Land für eine neue Dynamik in der jahrzehntelang auf der Stelle tretenden Debatte. Mittlerweile ist die Politik erkennbar bereit, Maßnahmen zur Steigerung der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts zu beschließen. Allerdings prallen dabei unterschiedliche Vorstellungen aufeinander. Während der Bundesjustizminister zu einer minimalinvasiven Lösung zu tendieren scheint, haben die Länder einen deutlich ambitionierteren Gesetzentwurf erarbeitet.

Angesichts dessen möchte man dem verfassungsändernden Gesetzgeber zurufen: "Wenn schon – denn schon". Über die verfassungsrechtliche Veredelung einzelner Statusregelungen des BVerfGG (Amtszeit, keine Wiederwahl, Zahl der Richter und Senate) hinaus sollte – dem Ländervorschlag folgend – die Zustimmungspflicht für Änderungen des BVerfGG in Art. 94 GG verankert werden. Angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit einer Gestaltungsmehrheit populistischer Parteien im Bundesrat könnte damit ein nachhaltiges Bollwerk gegen Versuche der Beeinträchtigung der Unabhängigkeit oder Handlungsfähigkeit des Gerichts errichtet werden. Dies entspräche zudem der in der paritätischen Besetzung zum Ausdruck kommenden gemeinsamen Verantwortung von Bundestag und Bundesrat für das oberste deutsche Gericht. An der Zweidrittel-Mehrheit bei der Richterwahl ist zur Sicherung der Überparteilichkeit festzuhalten. Insoweit besteht aber sowohl bei einfachrechtlicher als auch bei verfassungsrechtlicher Regelung das Risiko, dass radikale Parteien die Sperrminorität von einem Drittel der Stimmen erreichen und zur Blockade von Nachbesetzungen nutzen. Auch in diesem Fall ist der Ländervorschlag zur Problemlösung geeignet, wonach, falls innerhalb eines Jahres eine Nachwahl nicht zustande kommt, das Wahlrecht auf das jeweils andere Wahlorgan übergeht. Eine Nachwahl könnte dann ohne Verminderung der demokratischen Legitimation des Gewählten erfolgen.

Der Vorschlag bietet allerdings keine Lösung für den Fall einer Sperrminorität radikaler Parteien in beiden obersten Staatsorganen. Falls solche Parteien nicht nur über mehr als ein Drittel der Mandate im Bundestag verfügen, sondern auch an Landesregierungen in einem Umfang beteiligt sind, der ein Drittel der Stimmen im Bundesrat übersteigt, dürfte der Schutz des BVerfG vor der Blockade von Nachbesetzungen aber weder das einzige noch das größte Problem bei der Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat sein.

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Peter Müller ist Richter des BVerfG a. D.