NJW-Editorial
Eine mutige Wegweisung

Das Urteil des BVerfG zur Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen eignet sich nicht für eine populistische und vereinfachende Gerichtskritik. Auch wenn wesentliche Weichenstellungen anders hätten ausfallen können oder müssen, hat die Senatsmehrheit alle Argumente gehört und gewürdigt. Auf einem der letzten unkartierten Gebiete des Grundgesetzes hat das Gericht einen in sich stringenten Weg gefunden.

9. Nov 2023

Der seit mehr als zwei Jahrzehnten währende Streit um die Ermöglichung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen bei qualifizierten neuen Beweisen ist an sein vom Grundgesetz vorgesehenes Ende gekommen. Nach Auffassung der Mehrheit des Zweiten Senats verstößt der Ende 2021 eingeführte § 362 Nr. 5 StPO, der die Wiederaufnahme bei einem dringenden Verdacht des Mordes und schwerster Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch zuließ, gegen Art. 103 III GG und das Rechtsstaats­gebot. Die Richterinnen und Richter waren sich offenkundig darüber im Klaren, dass ihre Entscheidung nicht nur die Angehörigen der getöteten Frederike von Möhlmann enttäuschen wird, sondern auch dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürgerinnen und ­Bürger zuwiderläuft. Unmittelbar nach Urteilsverkündung wurden die Foren sozialer Medien von erbosten Kommentaren geflutet. Dabei eignet sich die Entscheidung nicht für eine populistische und vereinfachende Gerichtskritik, selbst wenn man wesentliche Weichenstellungen der Urteilsbegründung auch hätte anders stellen können, vielleicht auch müssen.

Die für das Mehrheitsvotum wichtige Deutung des geschichtlichen Hintergrundes ist alles andere als zwingend. Viel spricht für die Sicht des Minderheitenvotums, der zufolge der Verfassungsgeber keine Beschränkung auf den vorgefundenen, unübersichtlichen Katalog von Wiederaufnahmegründen vorgenommen hat. Und man kann mit Richterin Langenfeld und Richter Müller bezweifeln, dass die Mehrheit eine dogmatisch zwingende Analyse der bestehenden Wiederaufnahmegründe vorgenommen hat – und vor allem, dass diese implizit verfassungsrechtlich verbindlich ist. Schließlich nimmt die Mehrheit die von vielen beschriebenen „schwerlich auflösbaren Wertungswidersprüche“ (Sondervotum) hin.

Dennoch: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Senatsmehrheit jedes Argument gehört und gewichtet sowie auf einem der letzten unkartierten Gebieten des Grundgesetzes eine in sich stringente Wegweisung vorgenommen hat. Da es an aussagekräftigen Präjudizien mangelte, die Verfassungsgeschichte nicht eindeutig war und die Lehrmeinungen auseinandergingen, musste das Gericht, so oder so, ins normativ „Offene“ entscheiden. Wenn aber Kritik an jeder Entscheidung unausweichlich war, weil zwei fundamentale Rechtsprinzipien miteinander konfligieren, ist Fundamentalkritik am ­Gericht unberechtigt. Auch der in der taz erhobene Vorwurf, das Gericht hätte seinen „Heldenmut“ besser bei anderer Gelegenheit demonstriert, ist müßig: Zu beantworten war diese und keine andere Frage. Aus dem breiten Spektrum an Auffassungen, die in der Prozessrechtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert entwickelt worden sind, ist nun eine verbindlich geworden. So will es das Grundgesetz. 

Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Kubiciel lehrt an der Universität Augsburg; er vertrat in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.