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Neustart für das internationale Produkthaftungsrecht?
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Der BGH hat das Kollisionsrecht der Produkthaftung aus seinem Dornröschenschlaf erweckt – die Folgen für Hersteller und Zulieferer sind enorm.

15. Jul 2025

Das internationale Privatrecht empfinden viele Juristen als sehr kompliziert. Im besonderen Maße gilt dies für das Kollisionsrecht der Produkthaftung in Art. 5 Rom ­II-VO. In einer nahezu kafkaesken Fleißaufgabe muss sich der Rechtsanwender hier durch eine siebenstufige (!) Anknüpfungsleiter arbeiten, um das anwendbare Recht festzustellen. Und die Sprossen der Leiter sind dazu noch wacklig: Bis dato bestand noch nicht einmal ein einheitliches Verständnis über das „Inverkehrbringen“, dem zentralen Element der Norm. Mehr als 15  Jahre nach Inkrafttreten der Rom II-Verordnung hatte der BGH nun endlich die Gelegenheit, dem EuGH in einer Art „Rundumschlag“ mehrere zentrale Fragen zur Auslegung der Norm vorzulegen (Vorlagebeschl. v. 8.4.​2025 – VI ZR 43/22, BeckRS 2025, 12272). Die Antworten des EuGH haben das Potenzial, das internationale Produkthaftungsrecht grundlegend zu verändern.

Herstellerbezogen oder produktbezogen?

Für die Produkthaftungsrichtlinie hat der EuGH entschieden, dass ein Produkt dann in den Verkehr gebracht wird, wenn es „den vom Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist […]“ (EuGH NJW 2006, 825 – Declan O’Byrne Rn. 27). Danach handelt es sich bei dem Inverkehrbringen um einen einmaligen Vorgang im Rahmen der erstmaligen Vermarktung.

Doch ist dieses enge Verständnis auf die Rom II-VO zu übertragen? Der BGH zeigt Zweifel und erwägt die Möglichkeit eines wiederholten Inverkehrbringens (auch) durch Dritte. Im zu entscheidenden Fall wurden die betroffenen Produkte vom Hersteller zunächst nur in Deutschland in den Verkehr gebracht. Der Anspruchsteller hatte sie später von einem Dritten in Italien erworben und argumentiert, die Produkte seien damit (auch) dort in den Verkehr gebracht worden. Das überzeugt: Denn eine Anknüpfung an den Ort des Inverkehrbringens scheidet ohnehin aus, wenn dies für den Hersteller nicht vorhersehbar war (Art. 5 I 2 Rom II-VO). Wenn aber nur der Hersteller selbst ein Produkt in Verkehr bringen kann, bedürfte es dieser Regelung nicht.

Besondere Praxisrelevanz gewinnt der Fall zudem dadurch, dass der Anspruchsteller die defekten Produkte (Legebatterien) vom Zwischenhändler lediglich als Komponenten eines größeren Gesamtsystems (Großkäfig-System) erworben hatte. Hat der Zwischenhändler damit nur „sein“ Gesamtsystem in Italien in den Verkehr gebracht oder (auch) die Legebatterien als dessen Komponenten? Der BGH scheint – zu Recht – der zweiten Alternative zuzuneigen, da auch die Produkthaftungsrichtlinie eine Haftung von Teileherstellern vorsieht und ein Gleichlauf mit dem IPR insofern sachgerecht erscheint.

Fehlerhaft oder gleichgelagert?

Zuletzt wirft der BGH noch die ungeklärte Frage auf, ob es bei dem Inverkehrbringen nach Art. 5 Rom II-VO immer nur auf die konkret fehlerhaften Produkte ankommt oder auch gleichartige Produkte zu berücksichtigen sind. Würde es also auch genügen, wenn zuvor gleichartige Legebatterien in Italien vertrieben wurden? Auch insofern erscheint eine erweiterte Auslegung durchaus überzeugend. Denn wenn es allein auf das schadensstiftende Produkt ankäme, wären der Ort des Inverkehrbringens und der Erwerbsort fast immer identisch und die Anknüpfungsleiter des Art. 5 Rom II-VO weitgehend entbehrlich. Anders als der BGH andeutet, können hier aber nur Produkte desselben Herstellers relevant sein: Bei einem Rückgriff auf gleichartige Produkte von Dritten würde ein Inverkehrbringen nur dann ausscheiden, wenn es in einem Land faktisch gar nicht vertrieben wird.

Die Entscheidung des EuGH birgt für Hersteller und die gesamte Zulieferkette enorme Sprengkraft. Sollte er sich der vom BGH präferierten Auslegung anschließen, so fände die Anknüpfung der Produkthaftung eine echte Begrenzung nur noch über das Element der Vorhersehbarkeit. Hersteller und Zulieferer wären potenziell mit Produkthaftungsansprüchen aus einer kaum überschaubaren Zahl von Rechtsordnungen konfrontiert. Man kann dieses Ergebnis mit guten Gründen für richtig halten. Es stellt sich dann aber mehr denn je die Frage, ob die überkomplexe Anknüpfungsleiter des Art. 5 Rom II-VO überhaupt noch erforderlich ist.

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Dr. Max Finkelmeier, LL. B., ist Rechtsanwalt bei CMS Hasche Sigle in Frankfurt a. M.