Interview
Neuaufstellung für Massenverfahren
Interview
Foto_Interview_NJW_6_2022_Patrick_Schroeder_WEB
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Die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, die Volkswagen im Diesel-Komplex vertritt, gründet aufgrund der Erfahrungen aus diesem Mandat eine spezialisierte Einheit für Massen­verfahren. Hierzu haben wir Prof. Dr. Hans-Patrick Schroeder befragt, der als Partner den Aufbau verantwortet.

3. Feb 2022

NJW: Was war ausschlaggebend für diesen Schritt?

Schroeder: Massenverfahren in Form von zahlreichen parallelen Verfahren gegen ein Unternehmen sind eine Belastung für die Justiz, stellen aber auch die Beklagte und ihre anwaltlichen Vertreter vor enorme Herausforderungen. Wir haben in den letzten Jahren sehr viel ­gelernt, weil sich auch die Rahmenbedingungen von Massenklagen verändert haben. Unsere Mandanten haben uns mitgegeben, dass sie sich am liebsten einen Service aus einer Hand wünschen, mit möglichst ­wenig Schnittstellen und möglichst geringem Verwaltungsaufwand. Wir haben darauf unser Angebot für Massenverfahren analysiert.

NJW: Mit welchem Ergebnis?

Schroeder: In der bislang bestehenden Organisation waren wir mit den Anwälten der Praxisgruppe Dispute Resolution sehr gut in der Lage, zur Strategie eines Massenverfahrens zu beraten und besonders wichtige Verfahren selbst zu führen. Mit unserem Lab, also der kanzleiinternen Legal-Tech-Einheit, schaffen wir automatisierte Hilfsmittel wie etwa Case Management Tools. Bei sehr arbeitsintensiven Teilaufgaben hilft uns unser Hub, in dem Juristen ohne Anwaltszulassung hervorragend auf Projekten unterstützen. Was uns noch fehlte, war eine Einheit, aus der wir mit großer Mannschaftsstärke die anwaltlichen Tätigkeiten erbringen, die in den vielen Einzelfällen anfallen – Schriftverkehr mit dem Gericht, Wahrnehmung von mündlichen Verhandlungsterminen, Kostenfestsetzung etc. Das bauen wir jetzt auf.

NJW: Warum braucht es dafür diese neue Einheit? Oder anders gefragt: Warum kann das nicht weiterhin die Dispute-Resolution-Praxis der Kanzlei machen?

Schroeder: Die bestehende Dispute-Resolution-Praxis wird weiterhin die strategische Beratung auch in Massenverfahren liefern. Die Tätigkeit dieser Anwälte wird durch die neue Einheit ergänzt, nicht ersetzt. Neu ist vor allem, dass wir die Prozessanwälte, die sich auf die operativen Aspekte von Massenverfahren spezialisieren, gezielt an Orten ansiedeln, von denen sie alle Gerichte in kurzer Zeit erreichen können.

NJW: Geht es es nicht auch vor allem darum, dass die Einheit Rechtsdienstleistungen billiger erbringen kann?

Schroeder: Uns kommt es hauptsächlich darauf an, den Mandanten den besten Service liefern zu können – idealerweise alle Beratungsprodukte in Massenverfahren aus einer Hand. Dazu gehört auch, dass die Preise für jedes Produkt einem Marktvergleich standhalten. Auch dabei werden uns die Effizienzgewinne in der neuen Einheit helfen.

NJW: Ist die neue Einheit eine Kanzlei-Abteilung, oder steht sie eigenständig neben der Kanzlei?

Schroeder: Die neue Einheit hat keinen eigenen Rechtsträger und ist rechtlich vollständig in die bestehende Kanzlei integriert.

NJW: Wie viele Anwältinnen und Anwälte wollen Sie in der neuen Einheit beschäftigen?

Schroeder: Wir haben keine feste Zielgröße, sondern richten uns am tatsächlichen Bedarf aus. Wir halten es aber für möglich, dass eine mittlere zweistellige Anzahl von Anwälten an jedem Standort tätig sein wird.

NJW: Welches Profil müssen Bewerberinnen und Bewerber mitbringen?

Schroeder: Unser Angebot richtet sich an alle Anwältinnen und Anwälte, die an der Verteidigung in komplexen Massenverfahren mitarbeiten, aber dafür nicht in die üblichen Großstädte ziehen wollen, in der große Sozietäten traditionell Büros unterhalten. Wir bieten zudem die Erfahrung, bei Freshfields tätig zu sein. Eine auf die Art der Tätigkeit zugeschnittene Weiterbildung ist bereits in Planung. Wir gehen davon aus, dass sich von diesem Angebot überwiegend Berufsanfänger angesprochen fühlen. Aber auch Anwälte mit Berufserfahrung sind selbstverständlich willkommen.

NJW: Das erste Büro eröffnen Sie in Münster. Warum dieser Standort?

Schroeder: Münster ist eine Universitätsstadt mit sehr guter Verkehrsanbindung. Unsere neuen Kolleginnen und Kollegen werden von dort die Gerichte im Westen der Republik schnell erreichen können. Die Reaktion des Bewerbermarkts auf die Eröffnung in Münster bestätigt, dass sich viele Kandidaten mit Wurzeln in der Region von dem Angebot angesprochen fühlen.

NJW: Sind weitere Standorte geplant? Wenn ja: Wo?

Schroeder: Ja, wir planen die Eröffnung von drei weiteren Standorten im Laufe der nächsten Monate. In welchen Städten sich diese befinden werden, entscheiden wir in Kürze.

NJW: Welche Rolle spielt Legal Tech in dieser Einheit?

Schroeder: Die neue Einheit wird mit der Hilfe von ­Legal Tech bei der Bearbeitung der Einzelfälle so effizient sein, wie es aktuell möglich ist. Natürlich muss immer noch ein Anwalt den Schriftsatz prüfen und verantworten sowie bei Gericht einreichen. Auch die mündlichen Verhandlungen muss ein in Deutschland zugelassener Anwalt wahrnehmen.

NJW: Hat sich das im Diesel-Komplex praktizierte ­Modell der Lead-Kanzlei mit weiteren Sozietäten als „Sub-Unternehmer“ bzw. Unterbevollmächtigten nicht bewährt?

Schroeder: Das von Ihnen beschriebene System hat sich durchaus bewährt, und wir sind allen Kolleginnen und Kollegen dankbar, mit denen wir in den letzten Jahren zusammengearbeitet haben. Die Rückmeldung von Mandanten war aber auch, dass eine interne Lösung für das gesamte Massenverfahren vor allem unter dem Gesichtspunkt der Reduzierung von Schnittstellen und des Verwaltungsaufwands attraktiv erscheint. Das soll mit der neuen Einheit gelingen.

NJW: Es gibt zwar zunehmend Massenverfahren, aber der Diesel-Komplex ist in seiner Dimension vielleicht doch einzigartig. Werden Sie die Einheit auch nach dessen Erledigung noch brauchen bzw. auslasten können?

Schroeder: Die neue Einheit ist keine Lösung, die wir für das Diesel-Mandat entwickelt haben. Es ist vor ­allem ein Angebot für zukünftige Massenverfahren, die noch nicht die Gerichte erreicht haben.

NJW: Ist sie auch eine Reaktion auf Pläne der EU, den kollektiven Rechtsschutz auszubauen, etwa durch die EU-Verbandsklage?

Schroeder: Beratung im kollektiven Rechtsschutz – wie etwa bei Musterfeststellungsverfahren oder auch der geplanten EU-Verbandsklage – werden wir auch in Zukunft aus unserer Praxisgruppe Dispute Resolution heraus anbieten. Bei Kollektivverfahren werden zwar die Interessen einer Vielzahl von Verbrauchern vertreten, aber in einem einzelnen Verfahren. Die Effizienzvorteile der neuen Einheit werden in einem solchen Rahmen nicht wirksam. Hierfür bieten sich allein Massenklagen im Sinne von zahlreichen parallelen Streitigkeiten an.

NJW: Wie wird sich das Phänomen „Massenklagen“ aus Ihrer Sicht entwickeln?

Schroeder: Die Bewältigung von Massenklagen stellt das Gerichtssystem vor große Schwierigkeiten aufgrund sehr hoher Verfahrenszahlen. Die Musterfeststellungsklage war ein Versuch, die tatsächlichen und rechtlichen Fragen in einem Verfahren klären zu lassen, um auf diese Weise die Gerichte von vielen Verfahren zu entlasten. Allerdings verhindert die Erhebung einer Musterfeststellungsklage nicht, dass Verbraucher stattdessen dennoch eine Einzelklage erheben. Eine Klagewelle kann so trotzdem die Instanzen erreichen. Kollektiver Rechtsschutz steht zudem im Spannungsverhältnis zur Einzelfallgerechtigkeit, weil Merkmale wie konkreter Schaden oder Kausalität regelmäßig nicht mit Breitenwirkung festgestellt werden können. Eine „one size fits all“-Lösung erscheint mir derzeit nur bei sehr speziellen und einfach gelagerten Sachverhalten möglich zu sein, wie etwa bei Flugverspätungen. Es bleibt spannend!

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Patrick Schroeder, MLE, ist seit 2005 Rechtsanwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer in Hamburg, seit 2014 ist er Partner. Der Wirtschaftsmediator, Solicitor und Honorarprofessor an der Universität Hannover ist spezialisiert auf die Vertretung in Gerichtsprozessen, Schiedsverfahren und alternativen Streitbeilegungsverfahren, insbesondere in strategischen Auseinandersetzungen.

Interview: Tobias Freudenberg.