Urteilsanalyse
Nebenbetriebsstätte als Tätigkeitsort der ärztlichen Leitung eines MVZ
Urteilsanalyse
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Der Tätigkeitsort einer ärztlichen Leitung eines MVZ kann nach Ansicht des SG Marburg auch eine Nebenbetriebsstätte des MVZ sein, sofern der Gesamtverantwortung im Einzelfall dadurch hinreichend Rechnung getragen wird.

7. Aug 2023

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Uwe Scholz, BUSSE & MIESSEN Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Berlin
 
Aus beck-fachdienst Medizinrecht 08/2023 vom 04.08.2022

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Sachverhalt

Die Beteiligten stritten über die Rechtsfrage, ob die ärztliche Leitung eines MVZ an der Hauptbetriebsstätte tätig sein muss.

Die Beigeladene zu 7) nahm in Form eines MVZ an der vertragsärztlichen Versorgung teil und unterhielt außer der Hauptbetriebsstätte in A-Stadt noch zwei Nebenbetriebsstätten in A-Stadt und in D-Stadt.

Der Zulassungsausschuss (ZA) stellte mit Beschluss vom 21.06.2022 fest, dass das MVZ einerseits mit Wirkung zum 01.07.2022 nicht mehr unter der ärztlichen Leitung des Frauenarztes H. stand und lehnte den Antrag der Beigeladenen zu 7) ab, die in der Nebenbetriebstätte der Beigeladenen zu 7) in D-Stadt angestellte Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin S. als ärztliche Leiterin des MVZ anzuerkennen. Der ZA begründete dies in erster Linie damit, dass der ärztliche Leiter eines MVZ an der Hauptbetriebsstätte des MVZ angestellt sein müsse, da er nur dann seine gesetzliche vorgeschriebene Funktion ausüben könne. Aus dem Wortlaut des § 95 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB V ergebe sich, dass die Funktion der ärztlichen Leitung durch im MVZ selbst angestellte oder als Vertragsarzt tätige Ärzte ausgeübt werden solle.

Gegen den Beschluss legte die Beigeladene zu 7) Widerspruch ein, dem der Beklagte mit Beschluss vom 07.09.2022 stattgab. Er begründete dies in erster Linie damit, dass die ärztliche Leitung ohne Schwierigkeiten auch an der Nebenbetriebsstätte übernommen werden könne und zudem keine gesetzliche Vorgabe existiere, wonach die ärztliche Leitung in der Hauptbetriebsstätte angesiedelt sein müsse.

Der ZA erhob gegen den Beschluss am 01.11.2022 Klage und teilte der Beigeladenen mit, dass das MVZ aufgrund der aufschiebenden Wirkung der Klage keinen ärztlichen Leiter mehr habe und bis spätestens 13.12.2022 einen neuen ärztlichen Leiter benennen müsse.

Die Beigeladene zu 7) beantragte daraufhin einstweiligen Rechtschutz, dem das SG Marburg mit Beschluss vom 29.12.2022 entsprach und die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Beklagten anordnete.

Entscheidungsgründe

Das SG Marburg wies die zulässige Klage als unbegründet zurück.

Nach Auffassung des SG existiert kein generelles Verbot, wonach die ärztliche Leitung eines MVZ nicht auch an einer Nebenbetriebstätte angesiedelt sein darf. § 95 Abs. 1 Satz 3 SGB V regele lediglich, dass der ärztliche Leiter in dem MVZ selbst ärztlich tätig und angestellt sein oder selber den Status als Vertragsarzt besitzen müsse.

Der Klägerin sei zwar insoweit zuzustimmen, als sie vorgetragen habe, dass eine ärztliche Leitung eines MVZ stets faktisch in der Lage sein müsse, von ihrem jeweiligen Standort aus die vollständige und umfassende Kontrolle und Steuerung des MVZ wahrzunehmen. Diese Aufgaben dürften jedoch in aller Regelung durch persönliche Besprechungen, Telefonate, Emails und Nutzung moderner Kommunikationsmittel ohne weiteres zu bewältigen sein. Allerdings ist nach Auffassung des SG für die Ausübung einer effektiven Leitung stets erforderlich, dass in besonderen Situationen auch kurzfristig eine persönliche Präsenz der ärztlichen Leitung sowohl in der Hauptbetriebs- als auch in der Nebenbetriebsstätte sichergestellt sein muss. Diesen Maßstäben werde bei einer üblichen Erreichbarkeit der Hauptbetriebsstätte innerhalb von 30 min nach Auffassung des SG hinreichend Rechnung getragen. Das SG hielt die Erwägungen des BSG zur Erreichbarkeit des Vertragsarztsitzes bei Tätigkeiten in ausgelagerten Praxisräumen innerhalb von 30 min unter dem strengeren Maßstab der persönlichen Leistungserbringung für übertragbar. Wenn dies für medizinische Leistungen gelte, könne für weniger dringliche administrative und organisatorische Maßnahmen kein strengerer Maßstab gelten.

Praxishinweis

Im Interesse einer vorhersehbaren und möglichst gleichmäßigen Rechtsanwendung führt eine einheitliche Definition der zulässigen räumlichen Nähe zwischen Haupt- und Nebenbetriebsstätte zu einer vereinfachten Überprüfung der Anforderungen durch die Zulassungsgremien, sowohl im ländlichen als auch im städtischen Gebieten.

SG Marburg, Urteil vom 03.05.2023 - S 17 KA 642/22, BeckRS 2023, 11819