Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2023 vom 20.01.2023
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Sachverhalt
Die 1985 geborene Klägerin absolvierte die Realschule und erlernte den Beruf der Konditorin. Zwei später begonnene Ausbildungen beendete sie nicht. Die Klägerin arbeitete zuletzt 2008 als Konditorin. Danach war sie noch in geringem Umfang im Betrieb der Eltern tätig. Seit 2018 arbeitet sie in geringem Umfang im Betrieb ihres Lebensgefährten. Seit 2009 ist ein GdB von 40 festgestellt. Sie bezieht eine Rente wegen Berufsunfähigkeit aus einer privaten Lebensversicherung. Sie klagt seit Jahren über Fibromyalgie sowie eine somatoforme Schmerzstörung. Eine entzündlich rheumatische Erkrankung wurde durch verschiedene Untersuchungen ausgeschlossen. 2009/2010 war die Klägerin in teilstationärer psychiatrischer Behandlung wegen einer mittelgradigen depressiven Episode. Sie ist seitdem in ambulanter und stationärer Behandlung, vor allem wegen der Schmerzerkrankung. Die behandelnden Ärzte bescheinigten ihr immer wieder Arbeitsunfähigkeit. 2011 stellte die Klägerin erfolglos einen ersten Rentenantrag.
2014 beantragte sie Leistungen zur Teilhabe und absolvierte von Mai 2015 bis Februar 2016 einen Lehrgang zur beruflichen Rehabilitation und Integration. 2016 beantragte sie erneut die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Teilhabeleistung sei nicht erfolgreich gewesen. Widerspruch und Klage waren erfolglos. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie sei seit Jahren arbeitsunfähig. Die verschiedenen Erkrankungen würden sich gegenseitig verstärken. Es liege eine schwere Form der Fibromyalgie vor, die nicht heilbar sei, auch nicht durch verschiedene Fitnessangebote, die die Klägerin wahrgenommen hat.
Entscheidung
Das LSG weist die Berufung als unbegründet zurück. Es hat verschiedene ergänzende Befundberichte eingeholt und den vom SG angehörten Sachverständigen um eine ergänzende Stellungnahme gebeten.
Im Vordergrund des Krankheitsbildes stand und steht eine chronische Schmerzerkrankung, teils als Fibromyalgie, teils als somatoforme Schmerzstörung, teils als chronische Schmerzstörung diagnostiziert. Eine weitergehende Differenzierung ist nicht geboten, weil bei der rentenrechtlichen Prüfung einer Erwerbsminderung nicht die Diagnosen, sondern die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen im Vordergrund stehen. Die Schäden im Bereich des Skelettsystems, insbesondere die Bandscheibenvorwölbung habe nur wenige funktionelle Einschränkungen zur Folge. Die Depression wurde mit der Schmerzerkrankung vereinzelt diagnostiziert, hat aber auch nach Auffassung der psychiatrischen Sachverständigen keine wesentliche Funktionseinschränkung zur Folge. Der Feststellung einer quantitativen Leistungsminderung steht insbesondere entgegen, dass die Klägerin in den Begutachtungssituationen funktionell kaum eingeschränkt erschien. Dazu passt auch eine intakte Alltagsgestaltung mit weitgehend selbständiger Haushaltsführung, sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten, u.a. in Gestalt von Sport und zahlreichen Urlaubsfahrten. Eine „Beschwerdebetonung“ sei den Medizinern aufgefallen. Die bestehenden Erkrankungen führen zu qualitativen Einschränkungen, etwa was die Körperhaltung anlangt, ebenso Belastungen in Knien, Hocken und Bücken. Das reiche aber für die Feststellung der Erwerbsminderung gem. § 43 SGB VI nicht aus. Da die Gutachter sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Gerichtsverfahren leichte bis mittelschwere Tätigkeiten für möglich halten, ist die Prüfung einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung entbehrlich.
Praxishinweis
1. Das Urteil zeigt erneut, wie aufwendig die Begutachtungen im Einzelfall sein können, um die Frage der Erwerbsminderung sachgerecht zu beantworten. Das LSG hätte wahrscheinlich auch weitere Beweisanträge zurückgewiesen, weil Gutachten aus den verschiedenen ärztlichen Fachgebieten vorliegen. Das BSG hat mit Beschluss vom 27.09.2022 (BeckRS 2022, 33980) erneut zur Frage Stellung genommen, ob und inwieweit in solchen Rechtsstreitigkeiten auf den Antrag der Betroffenen der oder die Sachverständige im Termin persönlich anzuhören ist. Dazu bedarf es nicht nur eines Antrags auf Anhörung, sondern auch einer genauen Darstellung der Fragen, die dem Sachverständigen gestellt werden sollen und bisher noch nicht beantwortet sind.
2. Das LSG Bayern hat mit Urteil vom 06.04.2022 (BeckRS 2022, 31103) auch zu neuropsychologischen Testuntersuchungen Stellung genommen. Diese seien in erheblichem Maße mitarbeitsabhängig, so dass es „einer zusammenfassenden Einschätzung ihrer Validität durch einen Abgleich des Gesamteindrucks während der Untersuchung mit dem Alltagsverhalten“ bedarf. Auch im dortigen Fall ging es um einen Rentenbewerber, der geltend macht, an einer Fibromyalgie, verbunden mit einer Somatisierungsstörung, zu leiden.
3. Das LSG Schleswig-Holstein hatte mit Urteil vom 15.09.2022 (BeckRS 2022, 33828) ebenfalls zur Frage der Erwerbsminderung entschieden und betont, dass es sich dabei um eine längerfristige Einschränkung handeln muss. Stellt sich nach sechs Monaten Arbeitsunfähigkeit heraus, dass diese nicht endet, sondern in eine länger andauernde Leistungsminderung übergeht, so ist der Beginn der Leistungsminderung identisch mit dem Eintritt der Erwerbsminderung. Beweisbelastet für den Eintritt des Versicherungsfalles ist der Antragsteller.
4. Von der Erwerbsminderung i.S.d. § 43 SGB VI zu unterscheiden ist die Berufsunfähigkeit im Sinne der Satzungen der berufsständischen Versorgungswerke. Hier kommt es auf die Fähigkeit an, den „Beruf“ weiterhin ausüben zu können – ggf. mit Einschränkungen, dazu VG Magdeburg (BeckRS 2022, 30674) zur Ärzteversorgung.
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.08.2022 - L 21 R 741/20, BeckRS 2022, 33513