Urteilsanalyse
Nachholung einer Prozesshandlung als Voraussetzung der Wiedereinsetzung
Urteilsanalyse
urteil_lupe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
urteil_lupe

Eine „Nachholung“ der versäumten Prozesshandlung iSd § 236 II 2 ZPO erfordert nur deren (nachträgliche) Vornahme; einer besonderen Erklärung, dass dies gerade zur Nachholung erfolge, bedarf es nicht. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne Antrag kann daher nach einem Beschluss des BGH auch dann gewährt werden, wenn die Partei der Auffassung ist, die (erneut) vorgenommene Prozesshandlung bereits zuvor fristgerecht vorgenommen zu haben.

6. Okt 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 20/2021 vom 01.10.2021

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Zivilverfahrensrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Zivilverfahrensrecht beinhaltet er eine ergänzende Leitsatzübersicht. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Zivilverfahrensrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de


Sachverhalt

Die Klägerin hat gegen das klageabweisende Urteil des AG fristgerecht Berufung eingelegt. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, dass bis zum Ablauf der verlängerten Frist keine Berufungsbegründung eingegangen sei, hat die Klägerin umgehend mitgeteilt, die Berufungsbegründung sei mehrere Tage vor Ablauf der Frist erfolgt und nachweislich postalisch zugestellt worden. Hierzu hat sie eine eidesstattliche Versicherung einer Auszubildenden der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten vorgelegt, nach der diese die (in Fotokopie beigefügte) Berufungsbegründung in unterschriebener Urschrift, beglaubigter Abschrift und einfacher Abschrift etwa 14 Tage vor Fristablauf kuvertiert und in einen Postbriefkasten eingeworfen habe.

Das Berufungsgericht hat die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Eine Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht, da die Klägerin nicht innerhalb der Frist des § 234 ZPO eine Wiedereinsetzung beantragt habe; ein konkludenter Antrag lasse sich ihrer Mitteilung nicht entnehmen. Eine Wiedereinsetzung scheitere zudem daran, dass die Klägerin entgegen § 236 II 2 ZPO die versäumte Prozesshandlung nicht innerhalb der Antragsfrist nachgeholt habe. Denn die Klägerin habe lediglich eine einfache Ablichtung der Berufungsbegründungsschrift eingereicht, so dass die nach § 520 V ZPO iVm § 130 Nr. 6 ZPO erforderliche Unterschrift ihres Prozessbevollmächtigten fehle. Eine Unterschrift sei auch nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil die Mitteilung seinerseits vom Klägervertreter unterzeichnet gewesen sei. Dies könnte nur genügen, wenn die Klägerin zumindest sinngemäß erklärt hätte, die Ablichtung der Berufungsbegründungsschrift werde gerade mit dem Ziel eingereicht, nunmehr die Berufung zu begründen. Die Klägerin habe jedoch lediglich erklärt, die Kopie „noch einmal beigefügt“ zu haben. Dies sei nicht ausreichend. Dabei sei zu beachten, dass die Klägerin eine Wiedereinsetzung ersichtlich nicht für notwendig gehalten habe, so dass es aus ihrer Sicht keinen Grund gegeben habe, die Berufungsbegründung nachzureichen.

Entscheidung: Versäumte Prozesshandlung war wirksam nachgeholt worden

Auf die (ohne weiteres statthafte, §§ 574 I 1 Nr. 1, 522 I 4, 238 II 1 ZPO) Rechtsbeschwerde der Klägerin hat der BGH den Beschluss des Berufungsgerichts aufgehoben und sie Sache zur erneuten Entscheidung an dieses zurückverwiesen. Zwar habe das Berufungsgericht zutreffend und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet festgestellt, dass die Klägerin die Berufung nicht innerhalb der Frist des § 520 II 1 ZPO begründet habe. Rechtsfehlerhaft seien hingegen die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt habe. Dass die Klägerin keinen Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt habe, trage deren Ablehnung nicht. Denn gem. § 236 II 2 ZPO könne Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden, wenn die versäumte Prozesshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden sei. Dies habe die Klägerin – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – getan. Zwar sei für die Wiedereinsetzung die versäumte Prozesshandlung in der für sie vorgeschriebenen Form nachzuholen, so dass die nachzureichende Berufungsbegründung gem. § 130 Nr. 6 ZPO iVm § 520 V ZPO als bestimmender Schriftsatz grundsätzlich von einem Rechtsanwalt eigenhändig unterschrieben sein müsse. Wenn jedoch auch ohne die Unterschrift aufgrund anderer, eine Beweisaufnahme nicht erfordernder Umstände zweifelsfrei feststehe, dass der Rechtsmittelanwalt die Verantwortung für den Inhalt der Rechtsmittelbegründungsschrift übernommen habe, dürfe deren Wirksamkeit nicht allein deshalb verneint werden, weil es an der Unterschrift fehle. Daher könne die Wirksamkeit der Berufungsbegründung der Klägerin nicht wegen der darauf fehlenden eigenhändigen Unterschrift im Original verneint werden. Die Erklärung des Prozessbevollmächtigten, er füge „die Kopie der Berufungsbegründung“ bei, lasse keinen Zweifel, dass er dieser Schrift als der von ihm verantworteten Berufungsbegründung Geltung verschaffen habe wollen. Indem der Prozessbevollmächtigte erklärt habe, bei der Schrift handele es sich um die von ihm bereits eingereichte Berufungsbegründung, habe er deutlich gemacht, dass er für diese die Verantwortung übernehmen wollte. Soweit das Berufungsgericht die fragliche Erklärung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin deshalb als nicht ausreichend bewertet habe, weil dieser hätte erklären müssen, „nunmehr“ die Berufung zu begründen und die Berufungsbegründung „nachzureichen“, sei es von einem zu engen Maßstab ausgegangen. Erforderlich, aber auch hinreichend sei, dass die Partei die versäumte Prozesshandlung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist vornehme; einer ausdrücklichen Erklärung die Prozesshandlung „nachzuholen“ bedürfe es dagegen nicht. Die Rechtsbeschwerde sei daher zulässig, weil die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordere (§ 574 II Nr. 2 Fall 2 ZPO), und auch in der Sache begründet.

Praxishinweis

1. Ist ein fristgebundener Schriftsatz nach Mitteilung des Gerichts dort nicht eingegangen, nützt die Darlegung fristgerechter Einreichung als solche nichts, denn nur ein tatsächlich eingegangener Schriftsatz kann die Frist wahren. In einer solchen Situation kann nur die (zumindest hilfsweise) Beantragung der Wiedereinsetzung in die versäumte Frist weiterhelfen.

2. Allerdings ist auch ohne Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn wenigstens die versäumte Prozesshandlung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt wird, § 236 II 2 Hs. 2 ZPO. Nach BGH NJW-RR 2020, 309 mAnm Toussaint FD-ZVR 2019, 422530 muss die nachgeholte Prozesshandlung den prozessualen Formvorschriften entsprechen, insbes. also regelmäßig von einem postulationsfähigen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. Hieraus kann aber – anders als das LG dies getan hat – nicht gefolgert werden, dass bei einer nachgeholten Prozesshandlung insoweit ein strengerer Maßstab anzulegen wäre als bei einer fristgerecht erfolgten. In dem zuvor vom BGH entschiedenen Fall war innerhalb der Frist eine Berufungsbegründungsschrift ohne Unterschrift eingegangen; auf Hinweis des Gerichts war keine unterschriebene Begründungsschrift nachgereicht, sondern lediglich – erfolglos – glaubhaft gemacht worden, dass die eingereichte Begründungsschrift tatsächlich mit Wissen und Willen des Rechtsanwalts herausgegeben worden und kein bloßer Entwurf gewesen sei. Im jetzt entschiedenen Fall war indessen die Prozesshandlung durch Einreichung der Begründungsschrift nachgeholt worden; dass dieser (als Fotokopie des versandten, unterschriebenen Schriftsatzes) keine Unterschrift trug, war nach allgemeinen Grundsätzen (ausnahmsweise) formunschädlich, weil sich aus dem Begleitschriftsatz zweifelsfrei ergab, dass der Rechtsanwalt den Inhalt der Begründungsschrift verantwortete und ihm Geltung verschaffen wollte.

3. Mangels tatrichterlicher Feststellungen zu den von der Klägerin glaubhaft gemachten Umständen der behaupteten Schriftsatzversendung konnte der BGH selbst nicht über den Wiedereinsetzungsantrag entscheiden. Hält das LG im wiedereröffneten Berufungsverfahren die Angaben für ausreichend glaubhaft gemacht, dürfte aber dem Antrag wohl zu entsprechen sein. Denn mit der rechtzeitigen Aufgabe des fristgebundenen Schriftsatzes auf einen zuverlässigen Transportweg hat der Rechtsanwalt alles Erforderliche getan; einen unvorhersehbaren Verlust des Schriftsatzes auf dem Transportweg hat er nicht zu verantworten (vgl. etwa BGH NJW 2015, 2266 mAnm Toussaint FD-ZVR 2015, 369944).

BGH, Beschluss vom 29.07.2021 - III ZB 84/20, BeckRS 2021, 26108