Urteilsanalyse
Nach Zahl der Kinder gestaffelter Beitrag zur Pflegeversicherung
Urteilsanalyse
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Bei der Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen fordert Art. 3 Abs. 1 GG die Beachtung des Gebots der Belastungsgleichheit, das sich auf alle staatlich geforderten Abgaben erstreckt. Wirken sich Beitragsregelungen innerhalb der Gruppe der Familien zu Lasten bestimmter Familienkonstellationen nachteilig aus, so muss der Staat den besonderen Schutz beachten, den er der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schuldet. In der sozialen Pflegeversicherung führt die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Beitragsbelastung von Eltern nach Ansicht des BVerfG zu einer verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.

23. Aug 2022

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 17/2022 vom 19.08.2022

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de


Sachverhalt

Das SG Freiburg hat dem BVerfG gem. Art. 100 GG die Frage vorgelegt, ob im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung, welches Eltern gegenüber Kinderlosen beitragsrechtlich privilegiert, eine Beitragsdifferenzierung in Abhängigkeit von der Kinderzahl geboten ist. Dies hatte das BSG mit Urteil vom 30.09.2015 (FD-SozVR 2016, 378028) verneint, wogegen sich eine Verfassungsbeschwerde richtet. In einer weiteren Verfassungsbeschwerde wird geltend gemacht, die beitragsrechtliche Privilegierung von Eltern mit Kindern müsse auch in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung greifen.

Entscheidung

Das BVerfG hat entschieden, dass § 55 Abs. 1 und § 57 Abs. 1 SGB XI insoweit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sind, als beitragspflichtige Eltern unabhängig von der Zahl der von ihnen betreuten und erzogenen Kindern mit gleichen Beiträgen belastet werden. Die vorgenannten Vorschriften können bis zu einer Neureglung weiter angewandt werden. Dazu ist der Gesetzgeber bis zum 31.07.2023 verpflichtet.

Die Verfassungsbeschwerde, die auf eine beitragsrechtliche Privilegierung der Eltern auch in der GKV und in der Rentenversicherung abzielt, wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Das BVerfG knüpft an seine vorangegangene Entscheidung (BVerfGE 103, 242) an und prüft zunächst, ob ein "unterschiedliches Armutsrisiko“ problematisch ist, weil es in Abhängigkeit von der Kinderzahl zu einer weitergehenden „Verbeitragung“ des familiären Existenzminimums käme. Hier können jedoch „gleichheitsrechtlich relevante Nachteile“ nicht festgestellt werden. Allerdings tragen Eltern neben der „Beitragslast“ auch den wirtschaftlichen Aufwand der Kindererziehung. Dieser besteht einerseits aus den tatsächlich aufgewendeten Kindererziehungskosten und andererseits aus Opportunitätskosten, also den erziehungsbedingt entgangenen Erwerbs- und Versorgungschancen. Weil der „substantiell ansteigenden Kostenlast der Kinderziehung nicht mit einer (relativen) Beitragsentlastung im Verhältnis zu Versicherten mit weniger Kindern Rechnung getragen wird“, stellt sich die Frage, ob die Gleichbehandlung derart ungleicher Sachverhalte hier gerechtfertigt werden kann und noch verhältnismäßig ist. Für die Rechtfertigung der benachteiligenden Gleichbehandlung muss eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden. Dagegen verfängt der Einwand, der Gesetzgeber sei zur Typisierung befugt, nicht. Denn die Typisierung lässt sich nicht unter Gesichtspunkten der Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung rechtfertigen.

Praxishinweis

1. Eine außerordentlich lesenswerte und umfangreiche Entscheidung, die sich mit Kernfragen der sozialen Sicherheit und der Beitragserhebung befasst. Die vom Gericht minutiös durchgeführte Prüfung der Verhältnismäßigkeit hat den Schutz der Familie aus Art. 6 GG – wirksam – zu berücksichtigen: „Wirkt sich eine gesetzliche Regelung zum Nachteil der Familie aus, so ist der besondere Schutz zu beachten, den der Staat nach Art. 6 Abs. 1 GG der Familie schuldet“ (Rn. 284). Das Gericht betont abschließend, dass der Gesetzgeber im Rahmen seines grundsätzlichen Gestaltungsspielraums berücksichtigen kann, in welchem Maße ein „noch höheres Maß an Solidarität mit den Kindererziehenden“ von Kinderlosen und solchen mit weniger Kindern eingefordert werden kann. Ihm stehe es auch frei, sich den für eine Beitragsgestaltung in Abhängigkeit von der Kinderzahl erforderlichen weitergehenden Differenzierungsspielraum nicht oder nicht durch eine Umverteilung der Beitragslast, sondern anteilig auf andere Weise, z.B. durch steuerfinanzierte Bundeszuschüsse oder sonstige beitrags- und leistungsseitige Instrumente zu verschaffen. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Spitzlei, NZS 2022, 570.

2. Blickt man in die Zukunft, spricht einiges dafür, dass die soziale Pflegeversicherung eher „unterfinanziert“ ist. Der Gesetzgeber wird nun in der vom Gericht gesetzten Frist (31.07.2023) den Beschluss zum Anlass nehmen, die Finanzierung zu überprüfen. Da es im Jahre 2023 zu einer Erhöhung des Zusatzbeitrages in der GKV kommt, wird eine Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung schwerfallen, mittelfristig aber wohl kaum zu verhindern sein, will man nicht den Bundeszuschuss erneut erhöhen.

3. Der Beschluss ist auch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Ausgangspunkt für die Kritik am „gleichen Beitrag“ für kinderlose und kindererziehende Familien war die Überlegung, dass die „Last der Pflege“ auch heute von den Familien getragen wird. Es geht also weniger darum, dass im System der Umlage die nächste Generation Beiträge generiert, als vielmehr auch und gerade darum, dass die nachwachsende Generation zusätzlich in „Naturalunterhalt“ vergleichbare Pflegeleistungen zu Hause erbringt. Ob dies wirklich als „Abschied vom generativen Beitrag“ zu verstehen ist, erscheint fraglich (so aber Becker, NJW 2022, 5153).


BVerfG, Beschluss vom 07.04.2022 - 1 BvL 3/18, BeckRS 2022, 11336