NJW: Weshalb stellen Sie Ihren Entwurf eines Epidemiegesetzes ausgerechnet zu einem Zeitpunkt zur Diskussion, zu dem die Experten die Corona-Epidemie bereits für beendet erklärt haben, auf der anderen Seite aber noch maßgebliche Entscheidungen des BVerwG zur Seuchenbekämpfung ausstehen?
Kießling: Unser Entwurf enthält Regelungen, die für eine Vielzahl an Krankheitserregern gelten. In der Zukunft wird es weitere Epidemien geben, auf die das Recht besser vorbereitet sein sollte als auf die Corona-Pandemie. Angesichts der allgemeinen Ausrichtung des Entwurfs ist weniger entscheidend, was das BVerwG zur Verhältnismäßigkeit bestimmter Corona-Maßnahmen während eines bestimmten Infektionsgeschehens urteilt. Dass das Gericht möglicherweise die Heranziehung der infektionsschutzrechtlichen Generalklausel für einen längeren Zeitraum für möglich hält als wir, heißt wiederum nicht, dass man nicht jetzt die Rechtsgrundlagen für die Epidemiebekämpfung neu regeln könnte. Das scheint auch der Bundesjustizminister so zu sehen, der Anfang April für eine Reform des Infektionsschutzrechts noch in dieser Legislaturperiode warb.
NJW: Reichen die im IfSG enthaltenen Rechtsgrundlagen nicht aus, um bei künftigen Pandemien notwendige Schutzmaßnahmen ergreifen zu können?
Gallon: Das IfSG enthält mittlerweile nur noch die Generalklausel des § 28 I. Die Heranziehung dieser Vorschrift als Rechtsgrundlage für die Maßnahmen wurde 2020 damit gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber flächendeckende Maßnahmen der Epidemiebekämpfung nicht vorhergesehen und deshalb nicht geregelt hatte. Dieses Argument ist nun weggefallen.
NJW: Können Sie uns den wesentlichen Inhalt Ihres Entwurfs möglichst knapp zusammenfassen?
Hollo: Er unterscheidet auf Tatbestandsseite drei Stufen, die auf Rechtsfolgenseite zu unterschiedlich eingriffsintensiven Bekämpfungsmaßnahmen ermächtigen. Welche Maßnahmen auf welcher Stufe zulässig wären, haben wir für unterschiedliche Lebensbereiche – Schulen, Einzelhandel, Reiseverkehr, Gesundheitseinrichtungen etc. – ausdifferenziert. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die besonderen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Belange Berücksichtigung finden.
NJW: Inwiefern haben Sie sich von der Kritik an den Corona-Bekämpfungsmaßnahmen aus der Rechtswissenschaft leiten lassen?
Kießling: Im Vordergrund stand für uns nicht die Kritik an Maßnahmen, sondern an den Rechtsgrundlagen – also etwa die Frage, ob die Vorschriften bestimmt genug sind und unterschiedliche Belange ausreichend berücksichtigen. Für besonders umstrittene Corona-Maßnahmen wie Schulschließungen wiederum sieht unser Entwurf hohe Hürden vor.
NJW: Nun wissen wir ja mittlerweile, dass ein Pandemiegeschehen überaus dynamisch ist. Inwiefern kann dem gesetzgeberisch Rechnung getragen werden?
Gallon: Ein Gesetz, das für unterschiedliche Krankheitserreger gelten soll, kann der dynamischen Entwicklung des Pandemiegeschehens nur insofern Rechnung tragen, als es die Entscheidungsfindung der Exekutive prozeduralisiert. In unserem Entwurf ist neben einer Pflicht zur Befristung und Begründung von Schutzmaßnahmen unter anderem vorgesehen, dass die Regierungen ihre Entscheidungen in Anlehnung an das Planungsrecht umfassend konzeptionalisieren.
NJW: Lassen sich Schutzmaßnahmen gegen bis dato noch unbekannte Krankheiten überhaupt prospektiv regeln?
Hollo: Man muss Krankheitserreger für eine Regelung nicht konkret kennen; man kann auch abstrakt an bestimmten Eigenschaften ansetzen. Es gibt etwa Erreger, die sich über die Luft, über Tröpfchen oder über Kontaktflächen übertragen; es gibt Atemwegserkrankungen und Durchfallerkrankungen. Unser Entwurf ermöglicht deswegen unterschiedliche Arten von Maßnahmen. Wie schwerwiegend diese in Grundrechte eingreifen dürfen, hängt unter anderem von der Schwere der Auswirkungen der Erkrankung ab: Gegen einen Erreger, der eine oft tödlich verlaufende Krankheit verursacht, dürfen intensivere Maßnahmen ergriffen werden als gegen einen Erreger, der eine lange Krankenhausbehandlung erfordert, von dem aber alle wieder genesen.
NJW: Während Corona hat der Rechtsschutz der Bürger gegen staatliche Bekämpfungsmaßnahmen massiv gelitten. Sieht Ihr Entwurf insoweit Verbesserungen vor?
Kießling: Wir schlagen eine Anpassung der VwGO vor, damit auch Rechtsverordnungen des Bundes im Wege der Normenkontrolle überprüft werden könnten. Im Übrigen gibt unser Entwurf detailliertere Voraussetzungen vor als die Vorschriften, die es während der Corona-Epidemie gab. Dadurch wird auch das Prüfprogramm der Gerichte detaillierter, die künftig dann nicht mehr nur reine Verhältnismäßigkeitsprüfungen vornehmen würden.
NJW: Wenn wir richtig informiert sind, haben Sie bestimmte Bereiche ausgeklammert. Welche sind das und weshalb wurden diese ausgespart?
Gallon: Schutzmaßnahmen zur Epidemiebekämpfung werden stets ergänzt durch Bußgeld- und Entschädigungsvorschriften, gegebenenfalls auch durch sozialrechtliche Regelungen und Sondervorschriften für Medizinprodukte und Arzneimittel. Diese Bereiche haben wir ausgelassen, um uns auf die Vorschriften zu konzentrieren, bei denen der größte Diskussionsbedarf besteht. Manche anderen Maßnahmen wollten wir nicht regeln, weil sie unserer Ansicht nach entweder unverhältnismäßig sind – wie Ausgangsbeschränkungen – oder von Faktoren abhängen, die man erst in einer konkreten Epidemie beurteilen kann. Dazu gehören etwa Impfpflichten.
NJW: In einer der ersten Reaktionen auf Ihren Entwurf wurde kritisiert, Epidemiebekämpfung werde weiterhin allein der Exekutive überantwortet. Ist das so bzw. was entgegnen Sie auf diese Kritik?
Hollo: Hier müsste man konkretisieren, von welchem Gewaltenteilungsverständnis man ausgeht. Wer der Exekutive nicht wieder wie vor drei Jahren mit der Generalklausel die gesamte Entscheidung überantworten will, hat mehrere Möglichkeiten: Er könnte zunächst fordern, dass der Bundestag in einer Pandemie die Maßnahmen über Maßnahmegesetze selbst und unmittelbar steuert. Das will wohl schon aus Rechtsschutzgründen niemand. Das „Freischalten“ von Befugnisnormen durch einen Bundestagsbeschluss klingt für manche wie ein Gewinn an Verantwortungsteilung, hat sich aber in der Corona-Pandemie nicht bewährt. Man könnte auch vom Bundestag verlangen, in einer Pandemie in kurzen Abständen Befugnisnormen zu erlassen, die stetig an das Infektionsgeschehen angepasst werden – das wäre der Weg der Ampel-Koalition. Hiergegen spricht, dass die Epidemiebekämpfung dann leicht politisiert wird, für Gesetzgebungsverfahren wenig Zeit bleibt und gegebenenfalls zum Schutz vulnerabler Personengruppen erforderliche Befugnisnormen fehlen.
NJW: Und wie lautet Ihr Vorschlag?
Kießling: Eine weitere Möglichkeit besteht darin, durch ein Bundesgesetz einen engmaschigen Rahmen vorzugeben, der auf Tatbestandsseite Hürden und auf Rechtsfolgenseite Leitplanken für die Exekutive enthält, der aber in einer Pandemie von der Exekutive ausgefüllt wird. Diese Variante haben wir in unserem Entwurf umgesetzt. Sie hat unter anderem den Vorteil, dass damit schon jetzt absehbar wäre, welche Maßnahmen in welcher Situation bei einem Krankheitserreger mit bestimmten Eigenschaften möglich wären und welche nicht.
Prof. Dr. Andrea Kießling habilitierte sich 2021 an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2022 lehrt sie Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Johannes Gallon ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Europarecht (Prof. Dr. Anna Katharina Mangold) an der Europa-Universität Flensburg.
Dr. Anna-Lena Hollo ist Habilitandin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht an der Leibniz-Universität Hannover.
Ihr Gesetzentwurf ist als Buch bei Nomos erschienen: Gallon/Hollo/Kießling, Epidemiegesetz, Baden-Baden 2023.
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