Anmerkung von
Rechtsanwältin Dr. Anna Oehmichen, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz
Aus beck-fachdienst Strafrecht 11/2021 vom 27.05.2021
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Sachverhalt
Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt eine Vorlage des VG Wiesbaden zu Grunde. Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger WS, einem dt. Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Deutschland, und der durch das BKA vertretenen BRD wegen von dieser zu treffenden Maßnahmen zum Schutz von WS vor etwaigen negativen Auswirkungen einer auf Antrag der USA durch die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice auf die Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit.
Die angegriffene Red Notice wurde auf Grundlage eines Haftbefehls der USA u.a. wegen Bestechungsvorwürfen gegen den Kläger im Jahr 2012 ausgestellt. Die StA München hatte indes bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen derselben (der Red Notice zugrundeliegenden) Taten eingeleitet und dieses bereits 2010 gem. § 153a StPO gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt. Das BKA hat der Red Notice 2013 ein Addendum ausstellen lassen, dass davon ausgegangen werde, dass hinsichtlich der von der Red Notice umfassten Vorwürfe der Grundsatz ne bis in idem gelte.
Mit seiner Klage beantragte WS die BRD zu verurteilen, alle geeigneten Maßnahmen zur Löschung der ihn betreffenden Red Notice zu ergreifen. Er brachte vor, er könne in keinen Vertragsstaat des SDÜ reisen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Denn aufgrund der Red Notice sei er – trotz Addendum – auf den jeweiligen nationalen Fahndungslisten. Damit läge einerseits ein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem aus Art. 54 SDÜ vor, da das wegen der gegenständlichen Taten eingeleitete Verfahren endgültig eingestellt sei, andererseits ein Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV. Zudem verstoße die Weiterverarbeitung seiner in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten durch die Behörden der Mitgliedstaaten gegen die RL 2016/680.
Daraufhin setzte das VG das Verfahren am 27.6.2019 aus und legte dem EuGH sechs Fragen zur Vorabentscheidung vor. Im Kern wollte das VG wissen, ob den Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht verwehrt ist, (1) die Red Notice umzusetzen, indem sie die Freizügigkeit der gesuchten Person einschränken, und (2) die in der Red Notice enthaltene personenbezogene Daten weiterzuverarbeiten, wenn auf Ersuchen eines Drittstaats von Interpol eine Red Notice ausgestellt wurde und Taten zum Gegenstand hat, für die möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt. Die gegenständliche Red Notice wurde am 5.9.2019 von Interpol gelöscht, so dass der Kläger seine Klage dahingehend umstellte, Deutschland nunmehr zu allen erforderlichen Maßnahmen zu verpflichten, um zu verhindern, dass eine neue Red Notice wegen derselben Taten erlassen werden könnte.
Entscheidung
Der EuGH erklärte 5 der 6 vorgelegten Fragen auch nach Löschung der Red Notice weiterhin für zulässig.
Lediglich die Frage, ob das datenschutzrechtliche Niveau von Interpol den Anforderungen der RL 2016/680 dahingehend genüge, dass Mitgliedstaaten Daten an Interpol übermitteln dürften, sei unzulässig, da die Erforderlichkeit dieser Frage für das gegenständliche Verfahren nicht dargetan worden war.
Zur Frage, inwieweit die mögliche Doppelverurteilung einer vorläufigen Festnahme aufgrund Red Notice entgegenstand, stellte der EuGH zunächst unter Bezugnahme auf frühere Rspr. fest, dass aufgrund der Einstellung gem. § 153a StPO das Doppelbestrafungsverbot aus Art. 50 GRCh / Art. 54 SDÜ grundsätzlich zum Tragen komme. Ob Art. 54 SDÜ der vorläufigen Festnahme einer mittels Interpol gesuchten Person entgegenstehe, hänge davon ab, ob diese Person als „verfolgt“ i.S.d. Art. 54 SDÜ angesehen werden könne.
In Fällen, in denen fraglich sei, ob derselbe Sachverhalt in Rede stehe, ermögliche Art. 57 SDÜ den beteiligten Behörden, zur Klärung dieser Frage um weitere Informationen zu ersuchen. Während dieser Prüfung könne die vorläufige Festnahme ein notwendiger Zwischenschritt sein. Sobald aber feststehe, dass in einem anderen Mitgliedstaat eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ergangen sei, mit der festgestellt werde, dass das Doppelbestrafungsverbot in Hinblick auf die in der Red Notice bezeichneten Taten greife, stünden sowohl der in Art. 54 SDÜ enthaltene Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als auch die Freizügigkeit (Art. 21 I AEUV) iVm Art. 50 GRCh einer vorläufigen Festnahme entgegen. Um in solchen Fällen die Wirksamkeit dieser Normen zu gewährleisten, obliege es den Mitglied- und Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass Rechtsbehelfe zur rechtskräftigen gerichtlichen Feststellung, dass das Doppelbestrafungsverbot greift, verfügbar seien.
Da im Falle von WS nicht erwiesen sei, dass die in der Red Notice von 2012 genannten Taten identisch mit jenen seien, wegen derer WS bereits in Deutschland rechtskräftig abgeurteilt worden sei, verstoße dessen vorläufige Festnahme in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat gegenwärtig weder gegen Art. 54 SDÜ noch gegen Art. 21 I AEUV, jeweils iVm Art. 50 GRCh. Somit seien Art. 54 SDÜ und Art. 21 I AEUV, jeweils iVm Art. 50 GRCh, dahin auszulegen, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer auf Antrag eines Drittstaats von Interpol herausgegebenen Red Notice sei, durch die Behörden eines Vertrags- oder Mitgliedstaats nicht entgegenstünden, es sei denn, mit einer in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung werde festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertrags- oder Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist. Ohne eine solche gerichtliche rechtskräftige Entscheidung stünde auch die RL 2016/680 iVm Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRCh der Verarbeitung der personenbezogenen Daten durch die Mitgliedstaaten nicht entgegen.
Praxishinweis
Die lang erwartete Entscheidung stärkt den Schutz vor Doppelverfolgung innerhalb der EU und der Schengenstaaten und damit auch die Freizügigkeit insoweit, als es zumindest dann vor einer Festnahme innerhalb der EU und der Schengenstaaten schützt, wenn eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung vorliegt, die bestätigt, dass der Betroffene bereits in derselben Sache rechtskräftig abgeurteilt wurde.
Diese Bedingung mag rechtlich nachvollziehbar sein, gerade wenn unklar ist, ob es sich wirklich um „dieselbe Tat“ iSd Art. 54 SDÜ 5050 GRCh handelt. Sie greift allerdings weiterhin da zu kurz, wo die Red Notice selbst nur vage Informationen zum Tatvorwurf bietet. Dass in diesen Fällen der Betroffene Sorge tragen muss, die Einzelheiten des ihm vorgeworfenen Sachverhaltes zu recherchieren, um ein Gericht davon zu überzeugen, dass es sich um dieselbe Tat handelt, widerspricht der Unschuldsvermutung, indem es ihm, dem vorläufig Festgenommenen, die Beweislast für die staatliche Doppelverfolgung aufbürdet.
Im Falle einer Red Notice aus einem Drittstaat wird der Antragsteller von dieser oft erst erfahren, wenn er aufgrund dieser Red Notice festgenommen wird, „das Kind also schon in den Brunnen gefallen ist“. Bei einer nur vage formulierten Red Notice wird er dann auf die Akteneinsicht bei der CCF oder bei dem Ausstellungsstaat angewiesen sein, was wiederum mehrere Monate dauern kann und ohne anwaltliche Vertretung für die meisten kaum leistbar sein wird. Sollte es hier nicht besser im Sinne der „real risk“-Doktrin des EGMR ausreichen, wenn der Betroffene objektive, hinreichend aktualisierte Anhaltspunkte für eine mögliche Doppelverfolgung vorträgt, deren Verifizierung dann dem Vollstreckungsstaat obliegt?
Ein großer Schritt in Richtung Rechtssicherheit ist aber in jedem Falle die neue Vorgabe des EuGH an die Mitgliedstaaten zur Schaffung von wirksamen Rechtsbehelfen zur Feststellung, dass das Doppelbestrafungsverbot greift. Zu bedenken ist mit Blick auf UK außerdem, dass das unionsrechtliche Doppelbestrafungsverbot seit dem 1.1.2021 dort nicht mehr anwendbar ist (vgl. eingehend hierzu Schomburg/Oehmichen/Kayß, Human rights and the rule of law in judicial cooperation in criminal matters under the EU–UK Trade and Cooperation Agreement, NJECL, 3.3.2021 https://doi.org/10.1177/2032284421995933).
EuGH, Urteil vom 12.05.2021 - C-505/19 (Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag), BeckRS 2021, 10502