Urteilsanalyse
Mittagspause im Homeoffice ist versichert
Urteilsanalyse
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Wer im Homeoffice arbeitet, steht nach einem Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen auch in der Mittagspause auf dem Weg zu einer Kantine oder einem Geschäft, in dem er Nahrung für die Mittagspause einkauft, unter Unfallversicherungsschutz.

8. Aug 2023

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 15/2023 vom 04.08.2023

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Sachverhalt

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger am 24.02.2021 einen Arbeitsunfall erlitten hat. An diesem Tag arbeitete er in Absprache mit dem Arbeitgeber (im Wesentlichen wegen der Corona-Pandemie) im Homeoffice zu Hause. Er arbeitete dort so wie er es aus dem Betrieb gewohnt war. Die 30-minütige Mittagspause fand üblicherweise in der Zeit zwischen 12:00 Uhr und 13:00 Uhr statt. Am Unfalltag hat er sich um 12:22 Uhr aus dem Zeiterfassungssystem ausgebucht und sein Telefon zwecks Erreichbarkeit auf eine Kollegin umgestellt. Dann machte er sich auf den Weg in Richtung des ca. 350 Meter entfernt gelegenen Einkaufsmarktes, um dort ein Grillhähnchen zu erwerben. Auf dem Rückweg stolperte er über eine Bordsteinkante und fiel auf das Gesicht.

Die zuständige BG lehnt die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab, da die Nahrungsaufnahme und die dazu erforderlichen Wege nicht betrieblich bedingt seien. Das SG hebt die angefochtenen Bescheide auf und verpflichtet die BG, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen. Ein im Homeoffice in Vollzeit beschäftigter Arbeitnehmer könne während seiner Arbeitszeit Wege außerhalb der Wohnung im Rahmen der Mittagspause zurücklegen. Dieser Weg stehe nach der Rechtsprechung des BSG unter Versicherungsschutz. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die unter Bezugnahme auf Bieresborn (WzS 2022, 3 ff., 31 ff.) und Keller (SGb 2021, 743) geltend macht, Versicherungsschutz bestehe auf Wegen außerhalb des Hauses nur ausnahmsweise.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung der Beklagten zurück, lässt aber die Revision zu. Nach § 8 SGB VII gehört die Nahrungsaufnahme zu den privaten Verrichtungen. Anders kann es sich aber verhalten hinsichtlich der Unfälle auf dem Weg zur Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit. Zur Frage, ob Wege zur Nahrungsaufnahme aus dem Homeoffice heraus unter Versicherungsschutz stehen sollen, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Während Bieresborn (a.a.O.) und z.B. Ricke (BeckOGK, § 8 SGB VII, Rn. 129 k, 130 c) den Versicherungsschutz auf Wegen zur und von der Nahrungsaufnahme, die aus der Wohnung herausführen, verneinen, wird u.a. von Spellbrink (NZS 2016, 530) und Brink (FD.SozVR 2013, 352985) die gegenteilige Auffassung vertreten: Bei der Zurücklegung von Wegen aus dem Homeoffice zu und von der Nahrungsaufnahme bzw. dessen Erwerb zum alsbaldigen Verzehr bestehe grundsätzlich Unfallversicherungsschutz. Dafür sprechen auch die neuen Anforderungen bzw. Änderungen der (digitalen) Arbeitswelt mit einer Selbstbestimmtheit der Arbeit und dem sich entwickelnden Massenphänomen einer Beschäftigung im Homeoffice.

Für die Annahme des Versicherungsschutzes spreche im Falle des Klägers besonders, dass dieser sich aufgrund einer Anordnung seines Arbeitgebers im Homeoffice befunden hat. Diese Anordnung hatte zum Ziel, das Risiko einer Infektion mit dem Corona-Virus bei der Arbeit zu minimieren und die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu schützen.

Praxishinweis

1. Der Senat betont die Absprache zwischen Arbeitnehmer und Verletztem betreffend die Arbeit im Homeoffice – auch im Hinblick auf die Pandemie. Nach dem nun aktualisierten Wortlaut des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII kommt es nur darauf an, ob die versicherte Tätigkeit im Haushalt des Versicherten ausgeübt wird – auf die Billigung des Arbeitgebers, auf seine Anweisung und auf den Anlass (hier Pandemie) kommt es dann aber nicht mehr an.

2. Das BSG muss nun in dritter Instanz den Streit in der Literatur darüber schlichten, ob und inwieweit der Weg zur Nahrungsaufnahme in Fällen des Homeoffice unter Unfallversicherungsschutz steht oder nicht. Die vom LSG hier vertretene Auffassung provoziert dann die Frage, ob der Arbeitnehmer, der nicht im Homeoffice arbeitet und das Betriebsgelände verlässt, um beim Bäcker sich etwas zu essen zu kaufen, ebenfalls unter Unfallversicherungsschutz steht, was man dann wohl bejahen müsste.

3. In seinen Entscheidungsgründen nimmt der Senat auch ausdrücklich Bezug auf die nicht förmliche Parteivernehmung des Klägers und verweist dazu auf § 118 SGG und das Urteil des  BSG vom 13.08.2002 (BeckRS 2002, 41364). Solche „nicht förmlichen Parteivernehmungen“ können geeignet sein, sich über die Glaubwürdigkeit des klägerischen Vortrags ein Bild zu machen. Darauf wird es in Zukunft immer mehr ankommen, da Unfälle im Zusammenhang mit dem Homeoffice in vielen Fällen nicht von Dritten (Zeugen) beobachtet werden (vgl. zu den Besonderheiten bei Wegen rund um die Nahrungsaufnahme im Homeoffice auch Radtke-Schwenzer in FS Plagemann 2020, 181 ff).

4. Das LSG Hessen hat mit Urteil vom 07.02.2023 (BeckRS 2023, 2174) Versicherungsschutz bejaht auf dem Weg vom Arbeitsraum im Betriebsgebäude zum Getränkeautomaten. Das Zurücklegen eines Weges mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel zu besorgen oder einzunehmen, sei grundsätzlich versichert, und zwar unabhängig davon, ob der Weg auf dem Betriebsgelände zurückgelegt wird oder den Versicherten durch den öffentlichen Verkehrsraum zu einer Gaststätte oder einem Lebensmittelgeschäft führt. Auch hier hat das LSG die Revision zugelassen.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.02.2023 - L 14 U 29/22, BeckRS 2023, 10759