NJW-Editorial
Mehr Video wagen – mit Zwang?

Bundesjustizminister Marco Buschmann hat sich auf die Fahnen geschrieben, den Zivil­prozess zu modernisieren und zu digitalisieren. Die Videoverhandlung ist dafür ein wichtiger Baustein. Der nun vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des ­Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten erfüllt zwar viele Wünsche, schießt aber auch über das Ziel hinaus. Und das wichtigste Problem der gerichtlichen Praxis bleibt ungelöst.

7. Dez 2022

Videoverhandlungen haben sich seit Beginn der Pandemie etabliert und bewährt. Der aus der Not geborene Praxistest der 20 Jahre alten prozessualen Regelungen hat aber manche Lücken und Probleme offenbart. Über die Fortentwicklung dürften sich daher nicht nur digitalaffine Organe der Rechtspflege freuen: So wird etwa der Anwendungsbereich der Videoverhandlung auf Rechtsantragstellen und Erörterungstermine im PKH-Verfahren erstreckt. Auch dass der digitale Augenschein ebenso ausdrücklich geregelt wird wie die Möglichkeit zur Aufzeichnung von Videoverhandlungen, deren Ablehnung durch die h.M. bei Tonaufzeichnungen ohnehin systemwidrig war, ist erfreulich.

Die vorgesehene örtliche Flexibilität auch der Richterinnen und Richter soll das Verhandeln aus dem Homeoffice ermöglichen; Videoverhandlungen sollen dann für die ­Öffentlichkeit ins Gericht übertragen werden. Das mag mit den Vorteilen der Förmlichkeit des Erscheinens „vor Gericht“ kollidieren und Befürchtungen wecken, dass solche Verhandlungen nicht angemessen „ernst genommen“ werden könnten. Andererseits liegt die Verfahrensgestaltung seit jeher beim erkennenden Gericht, so dass stets die im Einzelfall für notwendig erachtete Verfahrensweise gewählt werden kann. Diesem Grundsatz wird die in § 128a II 2 ZPO-E vorgeschlagene und mit einer Beschwerdemöglichkeit bewehrte Soll-Regelung bei übereinstimmenden Anträgen der Parteien nicht gerecht; sie hat das Potenzial, die Akzeptanz der Digitalisierung in der Richterschaft empfindlich zu stören. Denn die vorgesehene Begründungspflicht für ablehnende Entscheidungen zwingt die Gerichte, ihre Einschätzung der Parteien, zum Prozessverlauf oder Vergleichsmöglichkeiten vorab offenzulegen. Das Beschwerderecht wird zu Verlegungen führen, was Verfahren verzögert statt beschleunigt. Offen bleibt auch, wie die angefochtene Ermessensentscheidung zur Notwendigkeit einer Präsenzverhandlung sinnvoll überprüft werden soll.

Was der Förderung von Videoverhandlungen wirklich im Weg steht, wird hingegen mit keinem Wort erwähnt: Könnte man einfach per Videokonferenz verhandeln, ohne sich um die technischen Abläufe und Probleme selbst kümmern zu müssen, würde dieses Werkzeug viel häufiger zum Einsatz kommen. Dazu braucht es qualifiziertes Personal vor Ort, das alle Vorbereitungen trifft, damit die Vorsitzenden sich auf die Verhandlung konzentrieren können. Vielleicht wäre das eine Idee für den Pakt für den Rechtsstaat?

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Jan Spoenle ist Präsidialrichter am OLG Stuttgart und bildet bundesweit Richterinnen und Richter sowie Sachverständige zu Videoverhandlungen fort.