Kolumne
Materielle Gerechtigkeit?
Kolumne
© Nicola Quarz

Kurz vor Toresschluss hat der 19. Deutsche Bundestag einen, so will es scheinen, elementaren Gesetzesbeschluss gefasst: ein „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“. Wer wäre schon gegen Gerechtigkeit, gar gegen materielle Gerechtigkeit? Bei näherem Hinsehen erweist sich die anspruchsvolle Bezeichnung freilich als ein Fall von schönfärbendem und verschleierndem Sprachgebrauch. Hinter dem Gerechtigkeitspathos verbirgt sich ein Angriff auf den zum Kernbestand liberal-rechtsstaatlicher Strafrechtspflege zählenden, in das römische Recht zurückreichenden, nun in der Tat elementaren Grundsatz des ne bis in idem.

22. Jul 2021

Das Gesetz wurde mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sowie der AfD beschlossen – der das Gesetz nicht weit genug ging, die es gleichwohl als Schritt in die richtige Richtung begrüßte. Es ermöglicht die Wiederaufnahme zuungunsten des rechtskräftig freigesprochenen Angeklagten, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes“ (sowie weiterer Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch) „verurteilt wird“. Die Verurteilung in der Wiederaufnahme ist in der Textfassung bereits vorweggenommen, die dringenden Gründe sind keineswegs so eng gefasst, wie die Gesetzesbegründung dies nahelegen würde. Aus Verteidigersicht wurde das Notwendige an dieser Stelle bereits gesagt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist der evidente Widerspruch zu Art. 103 III GG zu betonen, der auch nicht dadurch aufgehoben wird, dass bereits nach geltendem Recht eine Wiederaufnahme bei einem glaubwürdigen Geständnis eröffnet ist. Denn in diesem Fall ist es der Angeklagte selbst, der das Verfahren wieder ins Rollen bringt, und keine Strafverfolgungsbehörde, die sich möglicherweise mit einem umstrittenen Freispruch nicht abfinden kann. Bei den von der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe erfassten Verbrechen kann das Verbot der Wiederaufnahme in der Tat dem „Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zutiefst widersprechen“, wie in der Plenardebatte ausgeführt wurde. Dies kann allerdings bei einer Reihe weiterer Delikte der Fall sein – dass es auf Dauer beim Katalog der Neufassung bleiben wird, kann angesichts einschlägiger Erfahrungen aus anderen Bereichen keineswegs als ausgemacht gelten.

Nicht nur der Inhalt des Gesetzes ist es, der hier das Votum des Verfassungsrechts provozieren muss – es ist auch die Gesetzesbezeichnung. Sie insinuiert einen Gegensatz zwischen formeller und materieller Rechtsstaatlichkeit und trifft hierin auf eine verbreitete, mitunter auch medial beförderte Sehweise, wonach rechtsstaatliche Kautelen im Verfahren materielle Gerechtigkeit behindern. Aufgabe des Gesetzgebers gerade im Strafrecht ist es, das „Gerechtigkeitsempfinden“ der Bevölkerung rechtsstaatlich zu domestizieren – das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit verfehlt dieses Anliegen des Rechtsstaats.

Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.