NJW-Editorial
Mass Cases Make Bad Law
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Hard Cases Make Bad Law oder: Ein extremer Einzelfall ist keine gute Grundlage für die Formulierung einer Rechtsregel. Oliver Wendell Holmes Jr. hatte die Binsenweisheit auf „Great Cases“ übertragen, die in ungewöhnlichem Maß das öffentliche Interesse auf sich ziehen. Doch sind es nicht nur die „harten“ und die „großen“ Einzelfälle, die auf die Gefühlswelt einwirken und das (juristische) Urteilsvermögen zu verzerren drohen.

14. Jan 2022

Auch die schiere Masse gleichgelagerter Fälle hinterlässt Schneisen in der gewohnten Qualität richterlicher Rechtsfindung. Das zeigt sich (abermals) bei der Aufarbeitung des Dieselskandals. Anfangs waren es vor allem Braunschweiger Zivilgerichte, die – mittels einer Reihe dogmatischer Kunstgriffe – am liebsten sofort den Deckel auf den gesamten Dieselskandal draufgemacht hätten. Das änderte sich erst, als der VI. Zivilsenat die Entscheidungen reihenweise aufhob und die gefestigte Rechtsprechung in Erinnerung rief. Neuerdings fallen Instanzgerichte jedoch wieder mit eigenwilligen Rechtsansichten auf, die dazu führen, dass sich der Rechtsschutz verzögert oder die Aufklärung von Manipulationsvorwürfen ganz unterbleibt.

Behauptet wird etwa ein vorrangiges Geheimhaltungsinteresse an der Funktionsweise der als rechtswidrig beanstandeten Abschalteinrichtungen (OLG Schleswig BeckRS 2021, 37268) oder eine Bindung des Zivilrichters an die behördliche oder verwaltungsrichterliche Rechtsauffassung – und dies selbst zu Lasten der nicht am Verwaltungsverfahren beteiligten Käufer (OLG Stuttgart BeckRS 2020, 25570; OLG Dresden BeckRS 2021, 21577). Auch wird zunehmend darüber philosophiert, ob man ein – rechtswidriges – Untätigbleiben des KBA in Sachen Thermofenstern zum Anlass nehmen könnte, Sachmangel und Vertragsschlussschaden doch noch zu verneinen (OLG Schleswig BeckRS 2021, 38718; s. hierzu auch Menhofer NJW 2021, 3692 [3695]). Selbst der zwischenzeitlich für deliktsrechtliche Neueingänge zuständige VII. Zivilsenat legt unübersehbar die Axt an das Recht auf Beweis: Die ersten Daimler-Fälle um die vom KBA als rechtswidrig eingestufte und hinsichtlich ihrer Prüfstandsbezogenheit weiterhin ungeklärte „Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung“ hat dieser kurzerhand im Beschlussweg abgebügelt (BeckRS 2021, 33038 und BeckRS 2021, 38634; vgl. dagegen LG Saarbrücken BeckRS 2021, 6704). Damit kapituliert der Senat und sendet für tausende anhängige Parallelverfahren und eine laufende Musterfeststellungsklage (24 MK 1/21) ein unzweideutiges Signal.

In der gegenwärtigen Reformdiskussion stehen der kollektive Rechtsschutz und ein Vorabentscheidungsverfahren zum BGH mit Recht an vorderster Stelle. Doch darf es nicht nur um eine Entlastung der Justiz von redundanter Inanspruchnahme gehen; es ist auch an der Zeit für eine beherzte Reform der zivilprozessualen Sachaufklärung. Springt die Ampelkoalition im Zuge der Umsetzung von Art. 18 der VerbandsklagenRL dagegen zu kurz, wird es auch künftig heißen: Mass Cases Make Bad Law!

Prof. Dr. Michael Heese, LL.M. (Yale), ist Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.