Urteilsanalyse
LSG Nordrhein-Westfalen zur Opferentschädigung nach – rechtswidriger – polizeilicher Durchsuchung
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Wer über eine polizeilich angeordnete Hausdurchsuchung so erschreckt, dass er kollabiert, erleidet nach einem Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.04.2020 keinen vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff i.S.d. OEG, da es an einer körperlichen Einwirkung auf das Opfer fehlt.

10. Nov 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt  Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 21/2020 vom 06.11.2020

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de


Sachverhalt

Am 16.11.2015 kam es im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen die Klägerin zu einer Hausdurchsuchung in ihrer Wohnung. In deren Verlauf kollabierte sie. Eine körperliche Einwirkung durch Polizeibeamte bzw. deren Hilfskräfte fand nicht statt. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Durchsuchung wurde als unbegründet verworfen, das Ermittlungsverfahren später nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Der Klägerin wurde wegen der Durchsuchung eine Entschädigung nach dem StrEG gezahlt, einschließlich der entstandenen Anwaltskosten i.H.v. 441,41 EUR.

Die Klägerin begehrt wegen der Folgen der Hausdurchsuchung Leistungen nach dem OEG. Die Begrenzung des Tatbestandes des § 1 OEG auf körperliche Einwirkungen sei nicht europarechtskonform. Das SG weist die Klage ab, da es an einer rechtswidrigen Gewalttat als Voraussetzung für Ansprüche nach dem OEG fehlt. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung als unbegründet zurück. Die Hausdurchsuchung war nicht rechtswidrig. Dabei wurde auch keine Straftat zum Nachteil der Klägerin begangen. Erst recht lag kein tätlicher Angriff i.S.d. OEG vor. Dazu fehlt es schon an der nach der Rechtsprechung des BSG (BeckRS 2014, 23359 m. Anm. Rathgeber, FD-StrafR 2015, 367924) erforderlichen unmittelbaren Gewaltanwendung. Das europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten aus dem Jahre 1983 begründet keine Ansprüche der Klägerin (so auch BSG, a.a.O.).

Praxishinweis

1. Das LSG verweist auf den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des sozialen Entschädigungsrechts. Zum 01.01.2014 bestimmen die §§ 13 und 14 SGB XIV, dass auch psychische Gewalttaten einen Anspruch auf Entschädigung auslösen können – vorausgesetzt, es handelt sich um ein vorsätzliches rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten. SG und LSG haben im vorliegenden Fall die Rechtswidrigkeit der Hausdurchsuchung verneint unter Bezug auf die Beschlüsse des AG und des LG. Daran ändere nichts, dass das Verfahren schlussendlich eingestellt wurde, der Verdacht also unbegründet war. Im Falle der Klägerin kann man wohl auch nicht von einer gleichgestellten Gewalttat i.S.d. § 14 SGB XIV ausgehen. Danach steht u.a. einer Gewalttat gleich, „ein Angriff in der irrtümlichen Annahme des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes“.

2. Das LSG Hessen hat mit Urteil vom 17.10.2017 (FD-SozVR 2018, 404432 m. Anm. Bultmann) das Vorliegen eines Arbeitsunfalls gem. § 8 SGB VII bejaht. Hier war der Angestellten der Deutschen Bahn der Vorwurf gemacht worden, sie habe einen Diebstahl begangen. Dies führte zu einer ungerechtfertigten Leibesvisitation, die bei der dortigen Klägerin ein dauerndes Psychotrauma verursacht hat.

Das BSG hat sich im Urteil vom 26.11.2019 (BeckRS 2019, 41042) mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob ein „Beinahe-Unfall“ psychische Einwirkungen von solchem Gewicht ausgelöst hat, dass hier von einem Arbeitsunfall zu sprechen ist.

3. Das BSG hat die gegen die Entscheidung des LSG gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluss vom 14.08.2020 (BeckRS 2020, 24641) als unzulässig verworfen und seinerseits auf die Entscheidung des Senats vom 16.12.2014 (BeckRS 2014, 23359) Bezug genommen. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts der Tatbestand der Gewalttat in § 1 OEG eine andere Interpretation erfordere, sei beantwortet.

LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.04.2020 - L 13 VG 54/19, BeckRS 2020, 24642