Urteilsanalyse

LSG Baden-Würt­tem­berg: Ver­si­cher­ter Un­fall einer Pfle­ge­per­son bei der Re­zept-Ein­lö­sung
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Holt eine Pfle­ge­per­son für den zu Pfle­gen­den ein Re­zept ab und er­lei­det sie auf dem Weg einen Un­fall, liegt nach einem Ur­teil des LSG Baden-Würt­tem­berg vom 24.01.2020 ein nach dem SGB VII ver­si­cher­ter We­ge­un­fall vor. Der Autor nimmt diese Ent­schei­dung zum An­lass, die pro­ble­ma­ti­sche Ver­si­che­rungs­si­tua­ti­on von Pfle­gen­den zu er­läu­tern.

25. Aug 2020

An­mer­kung von
Rechts­an­walt Prof. Dr. Her­mann Pla­ge­mann, Pla­ge­mann Rechts­an­wäl­te Part­ner­schaft mbB, Frank­furt am Main

Aus beck-fach­dienst So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht 15/2020 vom 14.08.2020

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des So­zi­al­ver­si­che­rungs­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de


Sach­ver­halt

Der 1949 ge­bo­re­ne M ist bei der kla­gen­den Kran­ken­kas­se ge­setz­li­che kran­ken­ver­si­chert. M pflegt seine Mut­ter, bei der zum Un­fall­zeit­punkt die Pfle­ge­stu­fe II an­er­kannt war. Gemäß Gut­ach­ten des MDK be­stand Pfle­ge­be­darf in den Be­rei­chen Kör­per­pfle­ge, wel­cher in ers­ter Linie durch einen am­bu­lan­ten Pfle­ge­dienst ge­leis­tet wurde, sowie im Be­reich Er­näh­rung, Mo­bi­li­tät und haus­wirt­schaft­li­che Ver­sor­gung. Diese Pfle­ge über­nahm M eben­so wie das Ein­kau­fen. M und seine Mut­ter wohn­ten in einem ge­mein­sa­men Haus in ge­trenn­ten Woh­nun­gen. Am Un­f­all­tag, dem 03.03.2016 begab sich M auf den Weg zum Arzt sei­ner Mut­ter, um dort ein Re­zept für ein be­nö­tig­tes Me­di­ka­ment zu holen. Eine wei­te­re Be­sor­gung auf dem Weg hatte M nicht vor und wurde von ihm auch nicht ge­tä­tigt. Auf dem di­rek­ten Weg zur Pra­xis nahm ihm ein an­de­rer Ver­kehrs­teil­neh­mer die Vor­fahrt und ver­ur­sach­te so einen Un­fall. M er­litt hier­bei eine Cla­vi­cu­la-Frak­tur rechts und eine Schen­kel­hals­frak­tur. Die kla­gen­de Kasse über­nahm die Kos­ten für die Heil­be­hand­lung und mel­de­te bei dem be­klag­ten Un­fall­ver­si­che­rungs­trä­ger einen Er­stat­tungs­an­spruch an. Die be­klag­te Un­fall­kas­se lehn­te M ge­gen­über die An­er­ken­nung des Er­eig­nis­ses als Ar­beits­un­fall ab. Pfle­ge­per­so­nen sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII un­fall­ver­si­chert, so­weit sie im Un­fall­zeit­punkt Pfle­ge­leis­tun­gen i.S.d. § 14 Abs. 4 SGB XI er­brin­gen. Das Be­sor­gen eines Re­zepts sei Be­stand­teil der Be­hand­lungs­pfle­ge, die nur zu dem nach § 14 SGB XI zu be­rück­sich­ti­gen­den Pfle­ge­be­darf zähle, wenn und so­weit sie Be­stand­teil der Hilfe für die Ka­ta­log­ver­rich­tun­gen sei. Kos­ten­trä­ger für die Be­hand­lun­gen sei des­halb die Kran­ken­kas­se. Die Un­fall­kas­se über­sand­te der kla­gen­den Kasse eine Mehr­fer­ti­gung die­ses Be­schei­des.

Die kla­gen­de Kasse hielt an ihrem Er­stat­tungs­an­spruch der Be­klag­ten ge­gen­über fest unter Be­zug­nah­me auf das LSG Bay­ern (FD-SozVR 2015, 367341, wo­nach das Ab­ho­len des Re­zepts beim Arzt und des­sen Ein­lö­sen in der Apo­the­ke eine Ver­rich­tung i.S.d. § 14 Abs. 4 SGB XI aus dem Be­reich der haus­wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gung (Ein­kau­fen) dar­stel­le. Nach wei­te­rem Schrift­wech­sel erhob die Klä­ge­rin Leis­tungs­kla­ge zum SG. Der Ver­si­cher­te sei in Aus­übung der haus­wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gung für seine pfle­ge­be­dürf­ti­ge Mut­ter als Pfle­ge­per­son i.S.d. § 19 SGB XI tätig ge­we­sen. Das Ab­ho­len des Re­zepts beim Arzt und des­sen Ein­lö­sung in der Apo­the­ke stell­ten eine Ver­rich­tung i.S.d. § 14 Abs. 4 SGB XI a.F. (Ein­kau­fen) dar. Das SG ver­ur­teilt die Be­klag­te zur Zah­lung. Da­ge­gen rich­tet sich die Be­ru­fung der Be­klag­ten. Im Zeit­punkt des Un­falls habe M keine Leis­tun­gen der haus­wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gung i.S.d. § 14 Abs. 4 SGB XI er­bracht.

Ent­schei­dung

Das LSG weist die Be­ru­fung als un­be­grün­det zu­rück. Das LSG Bay­ern hat be­reits mit Ur­teil vom 11.11.2014 (a.a.O.) ent­schie­den, dass das Ab­ho­len des Re­zepts beim Arzt und des­sen Ein­lö­sen in der Apo­the­ke eine Ver­rich­tung i.S.d. § 14 Abs. 4 SGB XI a.F. dar­stel­le. Zu der dort er­wähn­ten haus­wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gung ge­hört auch das Ein­kau­fen (zu­stim­mend auch Jung, SGb 2015, 456). Un­fall­ver­si­che­rungs­schutz be­steht grund­sätz­lich nur bei der Hilfe sol­cher ge­wöhn­lich und re­gel­mä­ßig wie­der­keh­ren­den Ver­rich­tun­gen des täg­li­chen Le­bens, die auch für die Zu­ord­nung zu einer Pfle­ge­stu­fe re­le­vant sind. Der Ver­si­cher­te M woll­te ein Re­zept für seine pfle­ge­be­dürf­ti­ge Mut­ter vom Arzt ab­ho­len, als er ver­un­fall­te. Beim Ab­ho­len des Re­zepts vom Arzt han­delt es sich um eine Hil­fe­leis­tung im Be­reich der haus­wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gung, die vor­lie­gend der pfle­ge­be­dürf­ti­gen Mut­ter des M zu­gu­te­ge­kom­men ist.

Pra­xis­hin­weis

1. § 14 SGB XI ist durch das PSG II zum 01.01.2017 neu ge­fasst wor­den. Nun ge­hört zu den ma­ß­geb­li­chen ge­sund­heit­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen der Selb­stän­dig­keit bzw. der Fä­hig­kei­ten auch die Be­wäl­ti­gung von und selb­stän­di­ger Um­gang mit krank­heits- und the­ra­pie­be­ding­ten An­for­de­run­gen zum Bei­spiel in Bezug auf Me­di­ka­ti­on. Die Ver­sor­gung mit Me­di­ka­men­ten ist Pfle­ge­leis­tung nach SGB XI, so dass die Ar­gu­men­ta­ti­on der Un­fall­kas­se, was die An­wen­dung der Vor­schrif­ten über die Be­hand­lungs­pfle­ge gem. § 37 SGB V an­langt, je­den­falls durch das neue Recht über­holt ist. Die Un­fall­kas­se hatte ihre Ab­leh­nung im We­sent­li­chen ge­stützt auf das LSG Sach­sen-An­halt (BeckRS 2005, 155853). Es ist schon frag­lich, ob das LSG Sach­sen-An­halt an die­ser re­strik­ti­ven Auf­fas­sung fest­hält, nach­dem es mit Ur­teil vom 21.06.2018 (BeckRS 2018, 28689) einen gem. § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII ver­si­cher­ten Un­fall be­jaht hat. Die Pfle­ge­per­son war beim Öff­nen der Woh­nungs­tür ge­stürzt. Ge­öff­net wurde die Woh­nungs­tür für einen Mit­ar­bei­ter eines Sa­ni­täts­hau­ses, mit dem Kauf und Lie­fe­rung von Pfle­ge­hilfs­mit­teln be­spro­chen wer­den soll­ten.

2. Das BSG hat bis­lang nicht dar­über ent­schie­den, ob ein Pfle­ge­dienst Leis­tun­gen der am­bu­lan­ten Pfle­ge bei den Pa­ti­en­ten zu­hau­se nur durch be­schäf­tig­te Fach­kräf­te ver­rich­ten las­sen kann. Das wird von LSG Ber­lin (BeckRS 2020, 12318) und LSG Ham­burg (FD-SozVR 2019, 424036) zwar be­jaht, in der Pra­xis aber auch unter Bezug auf die spe­zi­el­le Ex­per­ti­se und Ver­ant­wor­tung der Fach­pfle­ge­kräf­te zum Teil an­ders ge­lebt. So­weit eine Be­schäf­ti­gung vor­liegt, be­steht Un­fall­ver­si­che­rungs­schutz gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Be­jaht man da­ge­gen Selb­stän­dig­keit, käme al­len­falls ein Un­fall­ver­si­che­rungs­schutz gem. § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII in Be­tracht, wenn man die selb­stän­di­ge Tä­tig­keit der Pfle­ge­fach­kraft dem „Ge­sund­heits­we­sen“ zu­ord­net. Dies ist zwei­fel­haft so­weit es um die Grund­pfle­ge nach dem SGB XI geht, deren Haupt­zweck in der Un­ter­stüt­zung be­steht und nicht so sehr in der Be­hand­lung. An­ders würde es sich ver­hal­ten bei Pfle­ge­kräf­ten, die zu­gleich Leis­tun­gen der häus­li­chen Kran­ken­pfle­ge gem. § 37 SGB V er­brin­gen, z.B. in Form der Be­at­mungs­pfle­ge. Der Aus­schluss vom Un­fall­ver­si­che­rungs­schutz gem. § 4 Abs. 3 SGB VII gilt für Pfle­ge­kräf­te nicht.

3. Zwi­schen allen Stüh­len sit­zen „ge­eig­ne­te Pfle­ge­kräf­te“, die mit der Pfle­ge­kas­se einen Ver­trag über häus­li­che Pfle­ge gem. § 77 SGB XI ge­schlos­sen haben. Nach § 77 Abs. 1 Satz 4 SGB XI ist in dem Ver­trag zu re­geln, dass die Pfle­ge­kräf­te mit dem Pfle­ge­be­dürf­ti­gen, dem sie Leis­tun­gen er­brin­gen, kein Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis ein­ge­hen dür­fen. Nach § 77 Abs. 2 SGB XI kön­nen bei Be­darf die Pfle­ge­kas­sen Pfle­ge­kräf­te zur Si­cher­stel­lung der Pfle­ge an­stel­len. Dar­aus ist zu ent­neh­men, dass ge­eig­ne­te Pfle­ge­kräf­te nach § 77 Abs. 1 SGB XI selb­stän­dig tätig wer­den. § 44 SGB XI re­gelt die be­son­de­ren Leis­tun­gen zur so­zia­len Si­che­rung nur zu­guns­ten von Pfle­ge­per­so­nen im Sinne des § 19 SGB XI, die aber ge­ra­de mit den „ge­eig­ne­ten Pfle­ge­kräf­ten“ i.S.d. § 77 Abs. 1 SGB XI nicht iden­tisch sind.

4. Noch kom­pli­zier­ter sind die Fälle, in denen zur Un­ter­stüt­zung im Haus­halt und bei der Pfle­ge Men­schen aus Ost­eu­ro­pa hin­zu­ge­zo­gen wer­den. So­weit diese Tä­tig­keit nicht über die Bun­des­agen­tur für Ar­beit ge­re­gelt wird, gehen be­trof­fe­ne Fa­mi­li­en häu­fig davon aus, dass es sich um Selb­stän­di­ge han­delt, deren So­zi­al­ver­si­che­rungs­schutz sich nach den Ge­set­zen des Her­kunfts­lan­des rich­tet. Fehlt es an der A1-Be­schei­ni­gung, ist das bis heute hoch­pro­ble­ma­tisch (vgl. dazu nur BGH, FD-SozVR 2020, 424373).

LSG Baden-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 24.01.2020 - L 8 U 4406/18, BeckRS 2020, 12245