NJW-Editorial
Langsames „Ausschleichen“
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Die Infektionszahlen steigen, und Krankenhäuser müssen elektive Eingriffe verschieben, weil sie Betten und Personal für Covid-Patienten benötigen. Dennoch möchte die Mehrheit des Bundestags das Fortbestehen der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ nicht feststellen; sie läuft daher am 25.11. 2021 aus (§ 5 I 3 IfSG). Dann können keine Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen mehr verhängt werden; auch flächendeckende Schließungen von Betrieben, Schulen und kulturellen Einrichtungen sind ausgeschlossen, weil der einschlägige § 28a I IfSG die Feststellung dieser Notlage voraussetzt. Klingt paradox, ist es aber nicht.

18. Nov 2021

Der Unterschied zwischen der "epidemischen Lage" im Rechtssinne und der Epidemie im epidemiologischen Sinne ist natürlich politisch kommunikativ schwer vermittelbar. Das kann man aber jedenfalls dem gelben und grünen Licht an der Ampel schwerlich anlasten. Denn das von der Vorgängerregierung ersonnene Konstrukt der "epidemischen Lage" ist konzeptionell missglückt. Seit wann muss der Bundestag feststellen, dass von ihm beschlossene Gesetze auch wirklich angewendet werden? Vermutlich wollte man durch den regelmäßig zu aktualisierenden Feststellungsbeschluss die unzureichende parlamentsgesetzliche Regelungsdichte für die Lockdown-Maßnahmen kompensieren - was aber nicht funktionieren kann, da auch der Bundestag nicht über verfassungsrechtliche Bindungen disponieren darf. Weil zudem selbst geringfügige Eingriffe wie die AHA-Regeln die Feststellung der "epidemischen Lage" voraussetzten, musste sie auch im Sommer verlängert werden, obwohl die öffentliche Gesundheit (§ 5 I 6 IfSG) nicht gefährdet war. Während man die "epidemische Lage" seinerzeit kontrafaktisch feststellen musste, wird sie nun kontrafaktisch aufgehoben.

Die "epidemische Lage" wird also den Herausforderungen der Epidemie ebenso wenig gerecht wie den verfassungsrechtlichen Anforderungen an hinreichend bestimmte Gesetze. Es ist daher richtig, dass die Ampel sie langsam "ausschleicht" und § 28a I IfSG mit seinen mittlerweile vielfach unverhältnismäßigen Eingriffsmöglichkeiten vorerst kaltstellt. Der neue, zielgenauere § 28a VII IfSG enthält etwa eine Rechtsgrundlage für flächendeckende 2G-Regelungen durch die Länder, die zudem von einer Öffnungsklausel in § 28a VIII Gebrauch machen können. Ausgeschlossen sind lediglich flächendeckende Ausgangsbeschränkungen und Schul- und Betriebsschließungen, deren Verhältnismäßigkeit für doppelt bzw. zunehmend dreifach geimpfte Personen aber ohnehin zweifelhaft wäre.

Die Richtung stimmt daher: Der Bundestag hat das Heft des Handelns wieder in die Hand genommen, und die Länder können die beschlossenen Maßnahmen abhängig von regionalen Unterschieden beim Infektionsgeschehen und den Impfquoten implementieren. Es kehrt verfassungsrechtliche Normalität ein.

Prof. Dr. Thorsten Kingreen lehrt Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg.