Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München
Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 23/2022 vom 17.11.2022
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AKB Ziff. A.2.9.1; VVG § 81 II
Sachverhalt
Die Klägerin begehrt vom Beklagten Leistungen aus einer Kfz-Vollkaskoversicherung. Nach Ziff. A.2.9.1 besteht kein Versicherungsschutz für Schäden, die der Versicherungsnehmer vorsätzlich herbeigeführt hat. Bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Schadens ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen, soweit es sich um die Herbeiführung des Versicherungsfalls infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel handelt.
Die Klägerin geriet am 28.09.2019 gegen 4:00 Uhr morgens mit ihrem Fahrzeug bei der Abfahrt an einem Autobahndreieck ins Rutschen, fuhr über den Grünstreifen und kollidierte dort mit einem Baum. Zum Unfallzeitpunkt war es dunkel, die Fahrbahn war aufgrund von Regen nass. Bei der Klägerin wurde um 7:37 Uhr eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,85‰ festgestellt. Sie macht geltend, sie habe eine Gefahrenbremsung vornehmen müssen, da ein anderes Fahrzeug vor ihr grundlos eine starke Bremsung vorgenommen habe. Dabei sei ihr Fahrzeug ins Rutschen gekommen. Der Unfall sei daher nicht auf ihre Alkoholisierung zurückzuführen, sondern hätte auch einem nüchternen Straßenverkehrsteilnehmer passieren können. Der Versicherer dagegen berief sich auf vollständige Leistungsfreiheit. Der Unfall sei auf überhöhte Geschwindigkeit und die Alkoholisierung der Klägerin zurückzuführen.
Das Landgericht gab der Klage nahezu vollumfänglich statt, da es dem Versicherer nicht gelungen sei, die Ursächlichkeit der Alkoholbeeinflussung der Klägerin für den Unfall zur Überzeugung des Gerichts nachzuweisen. Auf die Berufung des Versicherers wies das OLG die Klage insgesamt ab.
Rechtliche Wertung
Der Versicherer könne sich mit Erfolg auf eine Leistungsfreiheit gemäß Ziff. A.2.9.1 AKB in Verbindung mit § 81 Abs. 2 VVG wegen einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls berufen, so das OLG.
Grob fahrlässig handle, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonderem Maße außer Acht lasse, wer nicht beachte, was unter den gegebenen Umständen jedem einleuchten musste. Das Führen eines Fahrzeugs im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit (d.h. mit einer BAK von mehr als 1,1‰) stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen grundlegende Verhaltensregeln des Straßenverkehrsrechts dar und sei grundsätzlich objektiv und subjektiv als grob fahrlässig anzusehen (BGH, Urteil vom 22.06.2011 - IV ZR 225/10, BeckRS 2011, 19286, Besprechung von Grams, FD-VersR 2011, 321275).
Demgegenüber müsse der Versicherer in den Fällen relativer Fahruntüchtigkeit alkoholtypische Fahrfehler oder sonstige Ausfallerscheinungen beweisen, die den Schluss auf die alkoholbedingte Herbeiführung des Versicherungsfalls rechtfertigen (BGH, Urteil vom 05.12.1990 - IV ZR 13/90, VersR 1991, 289). Dabei seien die Anforderungen an die Beweiskraft entsprechender Hinweise umso geringer, je näher die BAK am Grenzwert von 1,1‰ liege. Als typische alkoholbedingte Fahrfehler seien etwa das Abkommen von der Straße ohne ersichtlichen Grund bei einfacher Verkehrssituation, aber auch das deutlich verspätete Erkennen von Hindernissen oder Gefahrenmomenten und die damit verbundene verzögerte oder überzogene Reaktion des alkoholisierten Fahrers zu werten (vgl. Klimke in Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl. 2021, AKB 2015 A.2.9 Rn. 52).
Nach den Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen sei von einer BAK zum Unfallzeitpunkt von mindestens 0,85‰ und maximal von 0,99‰ auszugehen. Damit habe die Klägerin schwerwiegend gegen grundlegende Verhaltensregeln des Straßenverkehrsrechts verstoßen. Auch in den Fällen relativer Fahruntüchtigkeit gelte ein Anscheinsbeweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit und dem Unfall (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 20.04.2020 - 5 U 18/20). Diesen könne der Versicherungsnehmer entkräften, indem er einen alkoholunabhängigen Geschehensverlauf plausibel erkläre. Er müsse - mit zunehmender Höhe der BAK gewichtigere - Anhaltspunkte dafür liefern, dass eine andere Erklärung des Unfallverlaufs als seine alkoholbedingte Verursachung nicht fernliege, sondern eine denkbare Möglichkeit darstelle.
Dies darzulegen sei der Klägerin hier nicht gelungen. Vielmehr kämen im Streitfall erhebliche Fahrfehler dazu, die typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt seien. Der seitens der Klägerin behauptete Unfallhergang sei ohne das Hinzukommen erheblicher Fahrfehler, die typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt seien, nicht nachvollziehbar. Deren Darstellung lasse nur den Schluss zu, dass die Klägerin entweder nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten habe, unaufmerksam gewesen sei oder ihr Bremsverhalten nicht den Geschwindigkeits- und Straßenverhältnissen angepasst habe. Die allgemeine Möglichkeit, dass auch einer nüchternen Person der Unfall hätte unterlaufen können, reiche zur Erschütterung der Annahme eines alkoholbedingten Fahrfehlers nicht aus (BGH, Urteil vom 30.10.1985 - IVa ZR 10/84, VersR 1986, 141).
Unter Berücksichtigung der Schwere des Verschuldens (Ziff. A.2.9.1 AKB in Verbindung mit § 81 Abs. 2 VVG) sei keine Kürzung der Versicherungsleistung, sondern ein vollständiges Entfallen der Leistungspflicht der Klägerin anzunehmen. Eine Leistungskürzung des Versicherers auf Null sei in besonderen Ausnahmefällen möglich, was etwa bei der Herbeiführung des Unfalls im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit in Betracht komme, da sich derartige Fälle in der Regel im Grenzgebiet zwischen grober Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz bewegten und das Führen eines Kfz in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand zu den schwersten Verkehrsverstößen überhaupt gehöre (BGH, Urteil vom 22.06.2011 - IV ZR 225/10, BeckRS 2011, 19286, Besprechung von Grams, FD-VersR 2011, 321275).
Die BAK sei hier nicht weit von der absoluten Fahruntüchtigkeit entfernt. Mildernde Umstände seien nicht ersichtlich. Vielmehr sei im subjektiven Bereich erschwerend zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihre Alkoholisierung keiner kritischen Selbstprüfung unterzogen bzw. diese vollkommen unterschätzt habe. Das Verhalten der Klägerin sei daher einer Vorsatzsituation angenähert, sodass die Annahme einer Leistungsfreiheit der Beklagten vorliegend angezeigt sei.
Praxishinweis
Die frühere Regelung des § 61 VVG a.F. sah bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles kraft Gesetzes eine vollständige Leistungsfreiheit des Versicherers vor. Die Abschaffung dieses «Alles-oder-Nichts-Prinzips» war eines der Hauptziele der VVG-Reform. § 81 Abs. 2 VVG enthält daher nun eine Regelung, wonach der Versicherer (nur noch) berechtigt ist, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Die Rechtsprechung hat dazu klargestellt, dass in Ausnahmefällen gleichwohl eine Leistungskürzung auf Null in Betracht kommt (BGH, Urteil vom 22.06.2011 - IV ZR 225/10, BeckRS 2011, 19286, Besprechung von Grams, FD-VersR 2011, 321275).
Die Voraussetzungen eines solchen Ausnahmefalls hat das OLG hier instruktiv dargestellt.
OLG Saarbrücken, Urteil vom 12.10.2022 - 5 U 22/22 (LG Saarbrücken), BeckRS 2022, 29996