Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft
Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 06/2023 vom 30.03.2023
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Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Die Bekl. ist ein Kranhersteller. Sie beschäftigte in ihren zwei Werken 1.536 Arbeitnehmer. Es besteht ein Betriebsrat. Der schwerbehinderte Kl. war seit dem 11.2.2011 bei der Bekl. als Montageschlosser beschäftigt.
Mit Beschl. v. 8.10.2020 wurde auf Antrag der Bekl. die vorläufige Eigenverwaltung im Schutzschirmverfahren gem. § 270b InsO angeordnet.
Die Bekl. vereinbarte am 4.1.2021 mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich (IA) mit Namensliste, der Umstrukturierungsmaßnahmen und den Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten beschrieb.
Mit Schreiben v. 5.1.2021 hörte die Bekl. den Betriebsrat sowie die Schwerbehindertenvertretung zu einer betriebsbedingten ordentlichen Kündigung des Kl. mit der dreimonatigen Frist gem. § 113 Satz 2 InsO an. Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung stimmten der Kündigung mit Schreiben v. 11.1.2021 zu. Nach Erstattung der Massenentlassungsanzeige und der erteilten Zustimmung des Integrationsamtes hörte die Bekl. den Betriebsrat sowie die Schwerbehindertenvertretung vorsorglich erneut an.
Mit Schreiben v. 5.3.2021 kündigte die Bekl. das Arbeitsverhältnis mit dem Kl. zum 30.6.2021. Hiergegen erhob der Kl. Kündigungsschutzklage, welche das ArbG abwies. Gegen das Urteil legte der Kl. Berufung ein.
Der Kl. meint insbesondere die Sozialauswahl sei, aufgrund einer fehlerhaften Vergleichsgruppenbildung, grob fehlerhaft. Zudem habe die Bekl. beabsichtigt eine „sehr große Zahl“ von Leiharbeitnehmern (Leih-AN) zu beschäftigen, was der Betriebsrat abgelehnt habe.
Entscheidung
Das LAG wies die Klage des Arbeitnehmers ab. Es ist der Ansicht, es läge ein formwirksamer IA nach § 125 InsO vor, der bei unveränderter Rechtslage die Folgen des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO auslöse. Der Kl. habe die Vermutungswirkung des § 125 InsO nicht widerlegt. Die Kündigung sei wirksam.
Aufgrund der namentlichen Benennung des Klägers auf der Namensliste des IA werde nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung vom 5.3.2021 durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Kl. entgegenstünden, bedingt sei. Die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO erstrecke sich nicht nur auf den Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten des auf der Namensliste aufgeführten Kl. zu unveränderten Bedingungen. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO umfasse auch die Vermutung, dass eine Weiterbeschäftigung des Kl. zu veränderten Bedingungen im Beschäftigungsbetrieb nicht möglich sei. Gegen diese Vermutung sei nur der Beweis des Gegenteils nach § 292 ZPO zulässig, welchen der Kl. nicht erbracht hätte.
Insbesondere könne der Kl. die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht durch die pauschale Behauptung widerlegen, die Beklagte habe beabsichtigt, eine „sehr große“ Zahl von Leih-AN zu beschäftigen, was der Betriebsrat abgelehnt habe. Nach der Rspr. des BAG, der die Berufungskammer folge, hinge es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob die (geplante) Beschäftigung von Leih-AN die Annahme rechtfertigt, im Betrieb des Arbeitgebers seien freie Arbeitsplätze vorhanden. Keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit iSv. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG bestehe, wenn Leih-AN lediglich eingesetzt würden, um Auftragsspitzen aufzufangen. Im Streitfall habe die Bekl. dargelegt, dass sie ua. wegen weltweiter Störungen in den Lieferketten gewisse Schwankungen durch den Einsatz von Zeitarbeitskräften habe auffangen müssen. Wenn aufgrund natürlicher Personalfluktuation Arbeitsplätze frei geworden seien, habe sie sich darum bemüht, diese mit gekündigten Arbeitnehmern zu besetzen, die noch keine neue Arbeitsstelle gefunden haben. Gegen diesen Vortrag führe der Kl. nichts Substantielles an.
Praxishinweis
Insbesondere in größeren Produktionsunternehmen spielt der flexible Einsatz von Leih-AN eine entscheidende Rolle, um saisonale Schwankungen und personale Engpässe schnell und unkompliziert auszugleichen und so Produktivitätsverluste und Leerlaufzeiten zu vermeiden.
Vor allem im Zusammenhang mit Restrukturierungsmaßnahmen, die einen Personalabbau zur Folge haben, stellt sich hierbei jedoch immer die Frage, ob es sich bei den von Leih-AN besetzten Arbeitsplätzen um „freie Arbeitsplätze“ handelt, die für die zu kündigenden AN eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit darstellen und die betriebsbedingte Beendigungskündigung somit unwirksam machen könnten.
Zumindest bei Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste (§ 125 InsO) wird die Vermutung – es bestehe keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit – nicht durch den Einsatz von Leih-AN widerlegt. Dies im Besonderen dann nicht, wenn die Leih-AN lediglich eingesetzt werden, um Auftragsspitzen abzufangen oder anstelle einer ansonsten vorzuhaltenden Personalreserve eingesetzt werden. Beschäftigt der AG die Leih-AN dagegen, um ein nicht schwankendes, ständig vorhandenes „Sockelarbeitsvolumen“ abzudecken, ist von einer alternativen Beschäftigungsmöglichkeit iSd. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG auszugehen. Dies gilt auch für den Fall, dass die Leih-AN Tätigkeiten ausüben, die von einem zu kündigenden AN verrichtet werden könnten (BAG 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, BeckRS 2012, 76158).
Es ist zu empfehlen, in den Interessenausgleich nach § 125 InsO eine entsprechende Klausel aufzunehmen, die dem AG den Einsatz einer bestimmten Anzahl von Leih-AN zu einem hinreichend definierten Zweck gestattet. Wäre der Einsatz von Leih-AN – z.B. wegen des Überschreitens der festgelegten Maximalanzahl – von der Klausel nicht gedeckt, wird dadurch zwar der Interessenausgleich verletzt, nicht aber die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO widerlegt (BAG 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, BeckRS 2012, 76158).
LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10.11.2022 - 5 Sa 39/22 (ArbG Kaiserslautern), BeckRS 2022, 44009