NJW-Editorial

Ku­chen der Voll­ju­ris­ten
NJW-Editorial

Die Not ist groß – die Rich­ter­schaft klag­te jüngst wie­der über Per­so­nal­man­gel. In der An­walt­schaft wird sich so man­cher ge­dacht haben, dass man die Sor­gen der Jus­tiz gerne hätte: Wäh­rend diese in den letz­ten Jah­ren im­mer­hin noch ge­wach­sen ist, hat die in Kanz­lei­en nie­der­ge­las­se­ne An­walt­schaft spür­bar Fe­dern ge­las­sen – in ei­ni­gen Kam­mer­be­zir­ken be­trägt das Minus bin­nen fünf Jah­ren 12 bis 15 %.

16. Mrz 2023

Die Pro­blem­lö­sungs­kon­zep­te: Mehr Stel­len in der Jus­tiz und über­haupt – mehr Geld. Die Ein­stiegs­ge­häl­ter für Jung­an­wäl­te er­rei­chen mitt­ler­wei­le in der Spit­ze Sum­men, die mit der Be­sol­dung der BGH-Prä­si­den­tin mit­hal­ten kön­nen. Wer als Ar­beit­ge­ber an die­ser Ge­halts­schrau­be nicht mit­dre­hen kann oder will, hat große Pro­ble­me beim Re­cruit­ment. Wenig über­ra­schend for­dert der Deut­sche Rich­ter­bund eine kräf­ti­ge Auf­wer­tung der R-Be­sol­dung – die Tä­tig­keit in der Jus­tiz müsse für den Nach­wuchs fi­nan­zi­ell at­trak­ti­ver wer­den.

All dies sind Pro­blem­lö­sungs­ver­su­che nach dem St. Flo­ri­ans­prin­zip. Wer mehr Voll­ju­ris­ten zu sich lo­cken will, löst sein Pro­blem, so ehr­lich muss man sein, auf dem Rü­cken der an­de­ren voll­ju­ris­ti­schen Be­ru­fe. Denn eines ist ge­wiss: Der Ku­chen der frisch ex­ami­nier­ten Voll­ju­ris­ten kann nur ein­mal ge­ges­sen wer­den. Das ei­gent­li­che Pro­blem ist nicht die ver­meint­lich feh­len­de At­trak­ti­vi­tät des einen oder an­de­ren Ju­ris­ten­be­rufs. Nein, das Pro­blem ist die zu ge­rin­ge Zahl an Ab­sol­ven­ten. Der Rechts­dienst­leis­tungs­markt und damit der Be­darf an Voll­ju­ris­ten wächst wei­ter, wäh­rend zu­gleich der Er­satz­be­darf nie zuvor ge­kann­te Di­men­sio­nen er­reicht hat (und dies – Vor­sicht Spoi­ler –, ob­wohl die stärks­ten Voll­ju­ris­ten­jahr­gän­ge noch zehn bis zwölf Jahre vom Ru­he­stands­al­ter ent­fernt sind).

Not­wen­dig ist, dies liegt auf der Hand, kein Nach­den­ken über Ge­häl­ter, son­dern über die At­trak­ti­vi­tät der voll­ju­ris­ti­schen Aus­bil­dung. Wenn das Sta­tis­ti­sche Bun­des­amt mitt­ler­wei­le Zehn­tau­sen­de Ju­ra­stu­den­ten in „al­ter­na­ti­ven ju­ris­ti­schen Stu­di­en­gän­gen“ an Uni­ver­si­tä­ten und Fach­hoch­schu­len nach­weist, die nicht zur Be­fä­hi­gung zum Rich­ter­amt füh­ren, sind dies ganz über­wie­gend Schul­ab­gän­ger, die vor 20 Jah­ren noch klas­sisch Jura stu­diert hät­ten. Hät­ten sie sich auch heute noch dazu ent­schie­den, gäbe es nicht zu wenig Rich­ter und rück­läu­fi­ge An­walts­zah­len. Warum mei­den sie die voll­ju­ris­ti­sche Aus­bil­dung? Wis­sen wir nicht. Kennt­nis­nah­me der Stu­die­ren­den­sur­veys des BMBF, in denen das Ju­ra­stu­di­um 1.0 stets weit ab­ge­schla­gen vom Ende des Fel­des grüßt? Noch nie ge­hört. Stra­te­gi­en, die­sen Trend zu stop­pen? Gibt es nicht. Eine sub­stan­zi­el­le Aus­bil­dungs­re­form? Bloß nicht. Statt­des­sen flie­ßt En­er­gie in die Ab­schaf­fung von Ab­schich­tungs­mög­lich­kei­ten, das Strei­chen von Ru­he­ta­gen im Ex­amen oder den Kampf gegen ver­meint­li­che „Jo­del­di­plo­me“. Wohl dem, der es sich leis­ten kann.

Prof. Dr. Matthias Kilian ist Direktor des Instituts für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln und des Soldan-Instituts.