Urteilsanalyse
Kreuzfahrtbegleitung als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
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Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen. Dazu kann auch die Begleitung während einer Kreuzfahrt gehören. Im Einzelfall ist - so das BSG - jede geeignete Eingliederungsmaßnahme daraufhin zu untersuchen, ob sie unentbehrlich zum Erreichen der Leistungsziele ist. Maßstab für Berechtigte sind die vergleichbaren Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen.

14. Nov 2022

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt/Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 23/2022 vom 11.11.2022

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Sachverhalt

Der Kläger ist schwerbehindert und leidet an einer spinalen Muskelatrophie mit schweren Wirbelsäulenverbiegungen. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen. Er bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, Leistungen der Grundsicherung und Leistungen der sozialen Pflegeversicherung. Er lebt in einer eigenen Wohnung und beschäftigt im Rahmen des Arbeitgebermodells drei Assistenten, deren Kosten der beklagte Träger der Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe trägt. Sein Antrag vom April 2016 auf Übernahme der Reisekosten einer Begleitperson für eine Kreuzfahrt mit zwei Landausflügen für den Zeitraum vom 02.07.2016 bis 09.07.2016 i.H.v. 2.015 EUR lehnte der beklagte Sozialhilfeträger ab.

Der Kläger unternahm die Reise im Juli 2016 und verlangt nun im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens Kostenerstattung. Klage und Berufung waren erfolglos. Die vom Kläger durchgeführte Kreuzfahrt diene nicht den Teilhabezielen der Eingliederungshilfe, sondern – wie bei nicht behinderten Menschen auch – der Erholung und des Erlebnisses. Die Reise sei auch nicht erforderlich gewesen. Der Kläger sei bereits hinreichend eingegliedert – so das LSG. Dagegen richtet sich seine Revision, mit der er eine Verletzung des § 54 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX sowie Art. 5 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention und Art. 3 Abs. 3 GG rügt.

Entscheidung

Das BSG hebt das Urteil des LSG auf und verweist den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurück. Als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden auf Grundlage des § 54 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 1 SGB IX (ab 01.01.2020: §§ 76 ff. SGB IX) die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder sichern. Die im Gesetz ausdrücklich erwähnten Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (ab 01.01.2018: § 78 SGB IX) umfassen auch Leistungen, denen als Teilhabeziel das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zugrunde liegt. Das Bedürfnis nach Urlaub und Erholung bei einer Kreuzfahrt fällt unter den Begriff der Freizeitgestaltung und ist damit im Grundsatz ein soziales Teilhabebedürfnis. Zum denkbaren Eingliederungsbedarf gehören damit auch die im Einzelfall notwendigen behinderungsbedingten Mehrkosten, wie sie hier für die Begleitperson geltend gemacht werden.

Auch aus § 58 SGB IX a.F. lässt sich ein über die Kommunikation mit anderen Menschen hinausgehendes Teilhabebedürfnis nach Freizeit ableiten. Der Begriff der Freizeitgestaltung als Teilhabeziel wird in § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX n.F. im Zusammenhang mit Assistenzleistungen ausdrücklich genannt. Der Senat verweist in diesem Zusammenhang auch auf das Wunsch- und Wahlrecht der behinderten Menschen und auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, in dessen Rahmen es Menschen mit Behinderung ermöglicht werden soll, soweit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Eine Teilhabeleistung zielt nach diesem Verständnis auf den Ausgleich einer Benachteiligung wegen einer Behinderung ab, wenn anderenfalls einem Menschen wegen einer Behinderung Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden.

Das allgemeine Bedürfnis nach Urlaub sowie nach selbstbestimmter Freizeitgestaltung besteht bei behinderten Menschen in gleicher Weise und löst daher für sich genommen regelmäßig keinen behinderungsbedingten Bedarf aus. Anders verhält es sich aber mit behinderungsbedingten Mehrkosten, wie sie hier geltend gemacht werden. Ob die hier begehrte konkrete Leistung notwendig i.S.d. SGB IX ist, kann anhand der bisherigen Feststellungen nicht vom Senat beurteilt werden. Hier ist auf den Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe abzustellen, nämlich eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierbei gilt ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung regelmäßig entgegensteht. Die einwöchige Kreuzfahrt des Klägers auf der Nordsee ist danach geeignet und auch erforderlich, um sein Bedürfnis nach Urlaub/Erholung zu decken. Zu prüfen bleibt allerdings, ob der Kläger im laufenden Jahr bereits mehrere Urlaubsreisen unternommen hat, so dass hier streitige Reise über die Bedürfnisse eines nicht behinderten Erwachsenen hinausgeht.

Praxishinweis

1. Kreuzfahrten können – so muss man das BSG verstehen – Teil einer Freizeitgestaltung sein, auf die auch behinderte Menschen Anspruch haben. Die Kosten dafür trägt der Betroffene aber selbst. Die Frage ist allein, ob durch die Behinderung bedingte Mehrkosten (hier: Begleitperson) als Leistungen der Eingliederungshilfe vom Eingliederungshilfeträger zu finanzieren sind.

2. Eicher (jurisPR – SozR 20/2022, Anm. 2) stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu.

3. Nach dem mitgeteilten Sachverhalt spricht einiges dafür, dass nach der Zurückverweisung das LSG seine Meinung ändert und den Sozialhilfeträger zur Kostenerstattung verurteilt, da es dem Kläger wohl kaum möglich ist, die Kosten selbst zu finanzieren – es sei denn, das persönliche Budget lief weiter und er hatte entsprechende Ersparnisse durch die Abwesenheit vom Wohnort.

4. Das LSG Sachsen-Anhalt hat sich mit Beschluss vom 18.08.2022 (L 8 SO 24/22 BER, n.v.) mit dem Anspruch auf persönliches Budget zur Überwindung einer Drogensucht befasst und den Anspruch bejaht, obwohl der Betroffene als erwerbsfähig galt und Leistungen nach dem SGB II bezog. Daneben kommen auch Leistungen der Eingliederungshilfe in Betracht.


BSG, Urteil vom 19.05.2022 - B 8 SO 13/20 R, BeckRS 2022, 27032