Anmerkung von
RA Dr. Steffen Krieger, Gleiss Lutz, Düsseldorf
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 35/2021 vom 02.09.2021
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Sachverhalt
Die Klägerin in der Rs. C-804/18 ist seit 2014 als Heilerziehungspflegerin in einer von dem beklagten Verein betriebenen überkonfessionellen Kindertagesstätte beschäftigt und trägt seit Anfang 2016 das islamische Kopftuch. Mit einer von dem Beklagten im Jahr 2018 erlassenen Dienstanweisung wurde das Tragen von sichtbaren Zeichen der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung am Arbeitsplatz bei Kontakt mit Eltern oder Kindern untersagt. Die Klägerin weigerte sich, das Kopftuch abzulegen und wurde daraufhin abgemahnt. Die Klägerin in der Rs. C-341/19 ist seit 2002 als Verkaufsberaterin und Kassiererin bei der Beklagten, einer Drogeriemarktkette, beschäftigt und trägt seit 2016 das islamische Kopftuch. Der Aufforderung der Beklagten, das Kopftuch abzulegen, kam die Klägerin nicht nach. Daraufhin erteilte die Beklagte ihr eine Weisung, am Arbeitsplatz keine auffälligen großflächigen Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Art zu tragen.
Entscheidung
Eine Regelung, die das Tragen von Zeichen oder Kleidung zur Bekundung der eigenen Religion oder Weltanschauung unterschiedslos verbietet, stellt nach Ansicht des EuGH keine unmittelbare, sondern eine mittelbare Diskriminierung dar. Diese könne mit dem Willen des Arbeitgebers, im Verhältnis zu seinen Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, gerechtfertigt sein, wenn er ein wirkliches Bedürfnis dafür habe. Ein solches könne angenommen werden, wenn Rechte und berechtigte Erwartungen der Kunden – z.B. im Bereich des Unterrichts der Wunsch der Eltern, dass ihre Kinder von Personen beaufsichtigt werden, die im Kontakt mit den Kindern nicht ihre Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck bringen – geschützt werden sollen. Das Verbot müsse geeignet sein, den Arbeitgeber von nachteiligen Konsequenzen freizuhalten und auf das unbedingt erforderliche beschränkt werden. Eine Rechtfertigung käme nur in Betracht, wenn das Verbot jede noch so kleine sichtbare Ausdrucksform der Überzeugung erfasst. Das Tragen unauffälliger, kleiner Zeichen könne die Eignung des Verbots zur Erreichung des angeblich vom Arbeitgeber verfolgten Ziels beeinträchtigen und die Kohärenz der Neutralitätspolitik in Frage stellen. In Fällen, in denen ein Verbot nur für auffällige, großflächige Zeichen gilt, könne auch eine nicht zu rechtfertigende unmittelbare Diskriminierung vorliegen. Ein solches Verbot sei grundsätzlich geeignet, Personen, die religiösen oder weltanschaulichen Strömungen angehören, die das Tragen eines großen Kleidungsstücks oder Zeichens – wie eines Kopftuchs – vorsehen, stärker zu beeinträchtigen.
Nationale Vorschriften wie Art. 4 I GG, die die Religionsfreiheit schützen, dürfen nach Ansicht des EuGH bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung angemessen ist, als günstigere Vorschriften i.S.d. Art. 8 I der RL 2000/78 von den nationalen Gerichten im Rahmen des Ausgleichs der in Rede stehenden Rechte und Interessen berücksichtigt werden.
Praxishinweis
Die Entscheidung über die Rechtfertigung der Benachteiligung der Klägerinnen obliegt nun den vorlegenden Gerichten. Der EuGH erlaubt es ihnen jedenfalls, anhand des nationalen Verfassungsrechts höhere Anforderungen an die Rechtfertigung einer (mittelbaren) Ungleichbehandlung wegen der Religion zu stellen. Damit vermeidet er einen Konflikt zwischen der Religionsfreiheit i.S.d. deutschen Verfassungsrechts und den europarechtlichen Regelungen. Insofern dürfen die Gerichte bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Kopftuchverbots am Arbeitsplatz auch weiterhin den bisher geltenden, strengen Maßstab anlegen (zuletzt BAG, FD-ArbR 2020, 432178).