Kolumne
Long Covid: Amnestie als Remedur?
Kolumne
© Nicola Quarz

Gegenüber staatlichen Eingriffen in Grundrechte legte die Rechtsprechung der Verwaltungs- und Verfassungsgerichte während der Pandemie deutliche Zurückhaltung an den Tag, Gesetz- und Verordnungsgebern wurden weite Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume konzediert, intensive Grundrechtsbeschränkungen wurden schon dann gerechtfertigt, wenn sie sich als Teil eines gesetzgeberischen Gesamtkonzepts darstellten.

11. Nov 2024

 Die Gerichte hatten verstanden, so ein ehemaliger Richter des BVerfG, „dass die Grundrechte unversehrt zurückkehren würden, die Toten aber nicht“. Ob allerdings die Grundrechte tatsächlich unversehrt zurückkehrten, ist nicht ausgemacht. So erwies sich die Würde des Menschen als oberster Verfassungswert als durchaus antastbar, wenn alten und sterbenden Menschen Beistand am Lebensende verweigert wurde. Dass in den Verfahren sich die Schutzpflichtendimension als ausschlaggebend erwies und meist pauschal zur Rechtfertigung massiver Freiheitsbeschränkungen herangezogen wurde, führte dazu, dass Grundrechte nicht mehr in erster Linie in ihrer eigentlichen eingriffsabwehrenden und freiheitsschützenden Funktion gesehen wurden, sondern zusehends als Grundlage auch für intensive, flächendeckende staatliche Eingriffe, wie sie nicht zuletzt in den Verfahren um Klima-, neuerdings auch Artenschutz geltend gemacht werden. Presse und Rundfunk erweckten den Eindruck, ihren grundrechtlichen Auftrag vor allem im Sinn eines Verlautbarungsjournalismus zu verstehen, es entwickelten sich parakonstitutionelle Entscheidungsstrukturen.

Um Long Covid für den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat vorzubeugen, bedarf es einer Aufarbeitung der Maßnahmen im Zuge der Pandemie und ihrer Bewertung. Während etwa in Sachsen eine Einsetzung eines Untersuchungsausschusses kontrovers erörtert wird, wird im Hinblick auf mitunter unverhältnismäßige Sanktionen für Verstöße gegen Corona-Schutzbestimmungen der Erlass von Amnestiegesetzen gefordert. Sie mögen eine gewisse Befriedungsfunktion ausüben. In einer frühen Entscheidung rechtfertigte das BVerfG aus dem Gedanken einer Befriedung den Verzicht auf die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs (NJW 1960, 235), der ja seinerseits rechtsstaatlich zuzuordnen ist. Amnestiegesetze bewirken dann, wenn sie laufende Verfahren niederschlagen, einen Eingriff in den Bereich der Judikative und bedürfen deshalb besonderer Rechtfertigung, zumal sie das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung zu untergraben drohen. Für Amnestieregeln im Zusammenhang mit Corona spricht jedoch, dass hier die Entscheidung über intensive Eingriffsmaßnahmen in einer Lage der Unsicherheit getroffen wurde – eben wegen dieser Unsicherheit wurde Gesetz- und Verordnungsgebern nahezu plein pouvoir zulasten der Grundrechte gegeben. Als „Korrektur des Rechts“ – so das BVerfG (NJW 1953, 777) – würden sie dazu beitragen, diese Asymmetrie zu beheben – Korrektur dort, wo Grundrechtseinschränkungen aus einer Ex-ante-Sicht toleriert wurden, sich aber aus einer Ex-post-Sicht als unverhältnismäßig erweisen. 

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Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.