Kolumne
Schuldenunion
Kolumne
© Nicola Quarz

Es kommt, wie es kommen musste. Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU angesichts globaler Herausforderungen und Krisen zu stärken (neudeutsch: Resilienz), sind nach einer jüngst vorgestellten, der Kommission erstellten Studie jährliche Investitionen im hohen dreistelligen Milliardenbereich erforderlich. Als Autor zeichnet der Ex-Präsident der EZB Draghi, dessen durchaus ambivalentes „whatever it takes“ nicht zuletzt auch den ausgeprägt „geschmeidigen“ Umgang mit europäischem Recht bedeutete.

7. Okt 2024

Dies dürfte auch angezeigt sein, wenn es darum geht, wie die Milliarden aufgebracht werden sollen. Wie zu erwarten zeigte sich die Kommissionspräsidentin für eine gemeinsame Schuldenaufnahme der EU aufgeschlossen, der Sache nach also für die verfassungsrechtlich höchst zweifelhaften Euro-Bonds. Die Schuldenaufnahme über 800 Mrd. Euro für „Next Generation EU“ (NGEU) hatte im Urteil des BVerfG vom 6.12.​2022 zum Eigenmittelbeschluss (NJW 2023, 425) ungeachtet erheblicher Zweifel die Hürden der Ultra-Vires-Kontrolle soeben noch genommen. Der Senat sah hierin „jedenfalls keine offensichtliche Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union“ – dieses „nicht offensichtlich“ unionsrechtswidrig zieht sich leitmotivisch durch die Urteilsgründe. Die Vereinbarkeit mit den maßgeblichen Bestimmungen des Primärrechts wie des Art. 122 AEUV über Hilfen an einzelne (nicht ausnahmslos alle) Mitgliedstaaten in außergewöhnlichen Notlagen oder des bail-out-Verbots des Art. 125 AEUV sei fraglich, jedoch nicht offensichtlich ausgeschlossen, die Annahme, dass es sich ungeachtet des den Haushalt der EU übersteigenden Volumens um „sonstige Einnahmen“ iSd Art. 311 AEUV handle, „zumindest nicht offensichtlich unzutreffend“. Wenn aber die Säulen, auf denen ein Rechtsakt ruht, durchweg brüchig und gerade noch tragfähig sind, wie ist es dann um die Stabilität der Konstruktion im Ganzen bestellt?

Maßgeblich für die Zurückhaltung des Senats, der nach dem PSPP-Urteil vom Mai 2020 (NJW 2020, 1647) wohl Angst vor der eigenen Courage bekommen hatte, dürfte zweifellos gewesen sein, dass es sich, wie Bundestag und Bundesregierung nicht müde wurden zu betonen, um ein einmaliges Instrument zur Reaktion auf eine präzedenzlose Krise handle. Hierauf bauen auch maßgeblich die Gründe auf. Von sachverständiger Seite allerdings wurde dies skeptisch gesehen – zu Recht, wie sich zeigt. Das BVerfG hat, wie das eindrucksvolle Sondervotum des Richters Peter Müller hierzu anmerkt, den Einstieg in eine dauerhafte und grundlegende Veränderung der europäischen Finanzarchitektur ohne die erforderliche primärrechtliche Grundlage hingenommen. Zaghaft formulierte Grenzen einer gemeinsamen Verschuldung werden Kommission und EuGH nicht sonderlich beeindrucken. So werden weitere einmalige historische Ausnahmefälle identifiziert werden, um das gleichermaßen einmalige Instrumentarium des NGEU dauerhaft in die Toolbox der Institutionen zu übernehmen, werden Verschuldung und Haftung weiterhin kreativ verschleiert werden. Für das BVerfG wird es schwierig werden, den eingeschlagenen Pfad zu verlassen.

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Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.