Kolumne
Ein großes Glück
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Wenn das Recht an seine Grenzen stößt, brennt der Wunsch nach Gerechtigkeit besonders heiß. Dies gilt auch für das noch junge Völkerstrafrecht. Angesichts der Monstrosität von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit scheint jeder Gerichtssaal zu klein und jede denkbare Strafe zu gering zu sein. Schon seit 1947 bemüht sich die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen um die Kodifizierung von Völkerrechtsverbrechen.

5. Aug 2024

Ziel ist es, die Prinzipien der Nürnberger Prozesse dauerhaft im internationalen Recht zu verankern. Bis heute scheitert dieses hohe Ideal immer wieder an praktischen Hindernissen. Auch das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, dessen Inkrafttreten 2002 dazu führte, dass der IStGH in Den Haag seine Tätigkeit aufnahm, vermochte daran nichts zu ändern. Ein Wunder ist das nicht: Bedeutende Staaten wie die USA, China, Indien, die Türkei oder Russland zogen ihre Unterschrift zurück oder verweigerten die Ratifizierung des Römischen Statuts. Dem IStGH fehlt es somit nicht nur an universeller Autorität, sondern auch an einer durchsetzungsstarken Exekutive.

Ob eine stärkere Wirkungsmacht des IStGH überhaupt wünschenswert wäre, ist durchaus zweifelhaft. Schon heute zwingt die niedrige Erfolgsquote (neun Verurteilungen in 22 Jahren) den IStGH zu schrillen Aktionen. So beantragte Chefankläger Karim Khan nach dem Angriff der Hamas auf Israel nicht nur gegen die Anführer Sinwar, Al-Masri und Haniyya Haftbefehle: In einer beispiellosen Täter-Opfer-Umkehr sollen nach den Vorstellungen Khans auch der israelische Ministerpräsident Netanyahu und Verteidigungsminister Galant verhaftet werden, sobald sie das Hoheitsgebiet eines der aktuell 124 Vertragsstaaten des Römischen Statuts betreten. Die Bundesrepublik Deutschland könnte somit bald vor einem Dilemma stehen: Netanyahu beim nächsten Staatsbesuch zu verhaften und damit irreparablen diplomatischen Schaden anzurichten, oder den Haftbefehl zu ignorieren und so die Autorität des IStGH zu untergraben. Eine Entscheidung des Gerichts über die Haftbefehle steht noch aus. Doch klar ist, dass der IStGH sich zum zahnlosen Papiertiger entwickelt, der zwischen Interessen und Bündnisverpflichtungen verschiedener Player zermahlen wird.

Das Nürnberger Militärtribunal vollbrachte es nach dem Zweiten Weltkrieg, den Opfern der Nazibarbarei zumindest symbolisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dass militärischer Sieg und moralische Überlegenheit Hand in Hand gingen, war der damaligen Lage geschuldet. Sie bot die historische Chance, der Welt den Unterschied zwischen Recht und Unrecht schonungslos vor Augen zu führen. Die Idee, jüdischen Widerstand gegen die eigene Vernichtung mit auf die Anklagebank zu setzen, war dem Nürnberger Tribunal wesensfremd. Dies sollte angesichts des größten Judenpogroms seit 1945 auch für den IStGH gelten. Denn dass Israels Juden heute über bessere Waffen verfügen als die Aufständischen des Warschauer Ghettos, ist der einzige Unterschied. Und ein großes Glück. 

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Dr. h.c. Gerhard Strate ist Rechtsanwalt in Hamburg und einer der renommierten Strafverteidiger des Landes.