Kolumne
Am Pranger
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In unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft ist das Rechtsverständnis des Mittelalters immer nur ein paar Mausklicks entfernt. So erscheint es manch feixendem Zeitgenossen völlig angemessen, seine Mitmenschen schlecht aussehen zu lassen. Ein unguter Moment, gefilmt mit dem Smartphone und über die sozialen Netzwerke verbreitet, genügt für die Zerstörung ganzer Existenzen. Lieber einen Freund verloren, als hunderttausend Klicks verpasst. 

1. Jul 2024

Und so wird eine trunkene Dummheit, die ihrem Urheber früher nach verkatertem Erwachen am nächsten Morgen allenfalls die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte, heute schnell zum Schritt in den Abgrund. Möglich macht es die Prangerwirkung von Facebook, YouTube oder TikTok. Greifen große Medien das Ereignis auch noch durch identifizierende Berichterstattung auf, ist der Schaden maximal: Der Zerstörung des persönlichen Ansehens folgen nicht selten der Verlust des Arbeitsplatzes und der Zusammenbruch der sozialen Beziehungen. Eine Rehabilitierung scheint dieser Logik nach nicht vorgesehen zu sein.

Dass das LG München I der Bild-Zeitung nun die unverpixelte Verbreitung des Sylt-Videos mittels einstweiliger Verfügung untersagt hat, setzt der aktuellen Lust am Anprangern zumindest nachträglich deutliche Grenzen. Gut so. Denn eine völlig entgleiste Party lässt sich beim besten Willen nicht zum zeitgeschichtlichen Ereignis hochstilisieren, selbst dann nicht, wenn es in ihrem Verlauf zu unappetitlichen Gesängen kommt. Sie lässt sich auch nicht zur politischen Veranstaltung umdeklarieren, es sei denn, man wollte unterstellen, eine zugedröhnte Partystimmung wäre heutzutage das ultimative Markenzeichen politisch aktiver Personen. Obwohl es gilt, keine Gelegenheit zu versäumen, im Dienste des Guten seine niedersten Instinkte auszuleben: Das Kunsturheberrecht eröffnet diese Möglichkeit im vorliegenden Fall einfach nicht. Denn auch für ein höheres Interesse der Kunst ist die Darbietung der übermütigen Rotzlöffel einfach zu schlecht. Dasselbe gilt für die Qualität der Bild- und Tonaufnahme, die es ebenfalls erheblich an der notwendigen Schöpfungshöhe mangeln lässt (§ 23 KUG).

Festzuhalten bleibt: Im Vergleich zur Aburteilung durch einen vom Tugendfuror getriebenen Internetmob nimmt sich das Mittelalter nahezu fortschrittlich aus. Die Zurschaustellung des Delinquenten am Pranger bedurfte damals zumindest eines vorhergehenden Gerichtsurteils. Heute finden sogar maßgebliche Politiker wie der ehemalige Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) nichts daran, völlig unbekümmert zur allgemeinen Jagd zu blasen. Zum Sylt-Video meinte er: „In kürzester Zeit waren alle Namen öffentlich. Sie haben alle ihren Job verloren. Und ich glaube, als Gesellschaft müssen wir darauf achten, dass das bei allen diesen Vorfällen gilt.“ – Damit eröffnet er ein weites Spielfeld für eilfertige Tugendwächter, pflichtbewusste Blockwarte und haltungsbeseelte Denunzianten, denen er das gute Gefühl gibt, gemeinsam mit ihm auf der richtigen Seite zu stehen. 

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Dr. h.c. Gerhard Strate ist Rechtsanwalt in Hamburg und einer der renommierten Strafverteidiger des Landes.