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Foto_Tobias_Freudenberg_WEB
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Haben Sie einen Lieblingsparagrafen? Diese Frage wurde kürzlich im Business-Netzwerk LinkedIn gestellt. Bei laut einer aktuellen Statistik der Bundesregierung fast 1.800 Gesetzen mit über 52.000 Einzelnormen ist das natürlich ein weites Feld. 

10. Jun 2024

Aber es gibt in diesem Regelungsmeer einige Perlen, auf die sich alle verständigen können. Es sind aber keine Paragrafen, sondern Artikel, allen voran das Menschenwürdegebot in Art. 1 I GG, gefolgt von weiteren Grundrechten. Aus dem Europarecht wurde Art. 3 I EUV genannt, wonach es Ziel der Union ist, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.

Da viele Anwältinnen und Anwälte an der Umfrage teilnahmen, kamen § 3 BRAO sowie § 1 BORA in die Favoritensammlung, die für den Rechtsstaat in der Tat essenziell sind. Ansonsten dominierte im einfachen Recht erwartungsgemäß das BGB. Es wurden viele „Klassiker“ genannt, etwa § 242 BGB, weil es ein Einfallstor für allgemeine Gerechtigkeitserwägungen sei, oder § 137 BGB, weil darin das Trennungsprinzip in zwei Sätzen auf den Punkt gebracht werde. Ein Juraprofessor warf § 90a S. 1 und 2 BGB (ausdrücklich nicht S. 3) in den Ring, wonach Tiere keine Sachen, sondern denkende und fühlende Lebewesen sind. Dies provozierte die Frage eines weiteren Rechtslehrers, ob es hier nicht Ausnahmen etwa für Mücken geben müsse. Apropos Stech-Insekten: Selbstverständlich fanden die legendären Bienenschwarm-Vorschriften in §§ 961 ff. BGB Eingang in die Favoritensammlung.

Da viele Juristinnen und Juristen Eltern sind, wurde § 1619 BGB mehrfach erwähnt, allerdings mit dem Hinweis, dass es sich dabei um eine illusorische Vorschrift handele (sie verpflichtet Kinder, im elterlichen Hauswesen Dienste zu leisten). Ich kann aus eigener Erfahrung zustimmen. Die Norm ist ein gutes Beispiel für mangelnden Gesetzesvollzug. Die Regelung ist praktisch nicht durchsetzbar.

Ein Unternehmensjurist nannte § 164 II BGB, weil darin aus seiner Sicht gut die Eleganz zum Ausdruck kommt, mit der das BGB strukturiert und formuliert wurde. Die Vorschrift ist allerdings auch ein Beispiel für eine Spezialität der Rechtssprache, die im Sinne der Normenklarheit eher kritisch zu sehen ist: Die sogenannte Kettenverneinung. Ein Anwalt erinnerte daher selbstkritisch an § 184 S. 1 GVG: Dass die Gerichtssprache Deutsch ist, werde leider oft vergessen, schrieb er. Stattdessen kommuniziere man in geschwurbelten Formulierungen, die außerhalb des Gerichtssaals niemand verstehe.

Man könnte deshalb auch eine prall gefüllte Sammlung schlechter bzw. unverständlicher Paragrafen erstellen. Da würde vermutlich das Steuerrecht dem Bürgerlichen Gesetzbuch den Spitzenplatz streitig machen. Allein im Einkommensteuergesetz finden sich unzählige Regelungsmonster, zum Beispiel §§ 3 und 52 EStG, die längenmäßig jeden Aufsatz in dieser Zeitschrift in den Schatten stellen. Ganz anders § 58 SGB V. Er ist einfach inhaltsleer. Alle vier Absätze sind weggefallen, die Norm existiert dennoch weiter. Gähnende Gesetzesleere, vielleicht ist das jetzt mein Lieblingsparagraf. 

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Tobias Freudenberg ist Rechtsanwalt und Schriftleiter der NJW, Frankfurt a. M.