Kolumne
75 Jahre Grundgesetz – wer vertraut wem?
Kolumne
© Nicola Quarz

"Deutschland zahlt Millionen an die Taliban" – der verständige, billig und gerecht denkende Durchschnittsleser dürfte dies wohl nicht in dem Sinn verstehen, dass entsprechende Beträge auf ein auf "Taliban" lautendes Offshore-Konto überwiesen wurden. Er dürfte auch verständig genug und hinreichend informiert sein, um als Kern der Aussage den plakativ formulierten Vorwurf zu verstehen, mit den in das Land fließenden Millionenbeträgen an Entwicklungshilfe werde eben auch dessen Terrorregime, zumindest mittelbar, gestützt. 

22. Mai 2024

Die so kritisierte Bundesregierung wollte dem Durchschnittsleser dieses Maß an Medienkompetenz und Differenzierungsvermögen nicht zubilligen und beantragte den Erlass einer einstweiligen Verfügung, die, in erster Instanz noch abgelehnt, vom KG in staatstragender Manier ausgesprochen wurde. Die Bundesregierung sah sich zu Unrecht diskreditiert, zumal, wie sie dann im Verfahren treuherzig versicherte, nur Vorhaben umgesetzt würden, die Frauen und Mädchen offenstünden. Die fragliche Äußerung sei geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Bundesregierung und des betroffenen Ministeriums und deren Funktionsfähigkeit zu gefährden. Nicht nur ist es bemerkenswert, dass es einer Entscheidung des BVerfG bedurfte, um den Verstoß gegen die Meinungsfreiheit des Art. 5 GG zu korrigieren, einen Verstoß, den die 1. Kammer des Ersten Senats als so schwerwiegend erachtete, dass sie dem Beschwerdeführer die Erschöpfung des Rechtswegs nicht zumuten wollte und die tatsächlichen Feststellungen der Fachgerichte einer tiefgehenden und intensiven Bewertung unterzog (Beschl. v. 11.4.​2024 – 1 BvR 2290/23, BeckRS 2024, 7299). Hierbei stellte die Kammer erneut klar, dass staatliche Institutionen sich scharfer, auch durchaus polemischer und eben nicht nur konstruktiver, "berechtigter" Kritik aus der "Bevölkerung" stellen müssen – was auch für das Gericht selbst gelten sollte, dem zuletzt eine gewisse Kritikempfindlichkeit attestiert wurde.

Bemerkenswert ist vor allem auch, wie hier die Bundesregierung eine Gefährdung des Vertrauens der Bürger in ihre Arbeit beklagt – es obliegt den staatlichen Institutionen selbst, sich Vertrauen zu verdienen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie und ist doch wiederum konsequent, wenn eine Regierung, die eben dieser Bevölkerung zusehends zu misstrauen scheint, ihrerseits gegen Meinungsäußerungen vorgeht, die sie als Ausdruck mangelnden Vertrauens sieht, sei es durch Kreation diffuser Begriffskategorien wie der einer Delegitimierung des Staates, sei es wie im Fall der Taliban-Hilfen durch Inanspruchnahme von Rechtsschutz gegen den Bürger. Das Grundgesetz feiert demnächst seinen 75. "Geburtstag". Es steht zu vermuten, dass aus diesem Anlass viel über die "Resilienz" der Demokratie gesprochen wird. Die Freiheit der Meinungsäußerung als die "Grundlage jeder Freiheit überhaupt" zum Schutz des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats zu beschränken, wird dessen Resilienz nicht stärken – im Gegenteil.

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Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.