Kolumne
"Alle Macht den Räten?"
© Nicola Quarz

50 Jahre nach der Novemberrevolution wurde die Parole erneut skandiert, gerne verbunden mit der Aufforderung, einem sich ins Versmaß fügenden Vertreter der Staatsmacht die "Gräten zu brechen". Von so aggressiver Rhetorik sind selbst "Klimaaktivisten" mit ihren etwas diffusen Vorstellungen von losbasierten, verbindliche Entscheidungen treffenden "Gesellschaftsräten" weit entfernt – sie wären ohnehin verfassungskonform nicht realisierbar. 

8. Apr 2024

"Bürgerräte" mit beratender und empfehlender Funktion demgegenüber erfreuen sich zunehmender, auch parlamentarischer Beliebtheit, auch und gerade vonseiten erklärter Gegner direkter Demokratie. 

Der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat "Ernährung im Wandel" stellte jüngst die Ergebnisse seiner Beratungen vor; weitere Bürgerräte sollen folgen. Dabei werden in einem mehrstufigen, komplizierten Losverfahren eine bestimmte Anzahl – im Fall des Bürgerrats zur Ernährung 160 – Teilnehmer ermittelt. Diese wurden aus einer nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Menge von über 20.000 Personen solange ausgelost, bis sie nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Bildungshintergrund, Beruf und weiteren Kriterien einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bildeten und, so der Entschließungsantrag des Bundestags (BT-Drs. 20/6708), zu einer ihnen vorgegebenen Thematik "die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger in die politische Debatte einbringen" konnten. Ihre Empfehlungen wurden dem Bundestag übergeben und sollen dort beraten werden. Die Teilnehmer des Bürgerrats Ernährung, immerhin 0,0002 % der Bevölkerung, mögen die Veranstaltung als gelebte Demokratie empfunden haben, ob aber Bürgerräte nach diesem Muster eine Stärkung der Demokratie bewirken und dazu beitragen können, die Distanz zwischen Bürgern und Parlament und Regierung zu verkürzen, darf bezweifelt werden, umso mehr angesichts einer Wahlrechtsreform, die verwaiste Wahlkreise in Kauf nimmt und auf Distanz, nicht auf Nähe zwischen Wahlvolk und Abgeordneten angelegt ist.

Anders als bei einer Volksbefragung, bei der alle Stimmberechtigten zu einer staatlich organisierten Abstimmung aufgerufen sind (BayVerfGH NVwZ 2017, 319), stellt der parlamentarisch eingesetzte Bürgerrat keinen Akt der Staatswillensbildung, aber doch eine staatlicherseits initiierte und organisierte Veranstaltung dar. Die Thematik ist vorgegeben, der Bürgerrat wird durch "Experten" und einen wissenschaftlichen Beirat, dessen Mitglieder vom Bundestag durch die Fraktionen benannt werden, angeleitet und von der Bundestagsverwaltung unterstützt. Neben dem Widerspruch zur repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes ist es vor allem dieses Element einer staatlich orchestrierten Meinungsbildung, die die Aufmerksamkeit des Verfassungsrechts auf sich ziehen sollte. Denn sie fügt sich ein in Tendenzen zur verstärkten staatlichen Einflussnahme auf gesellschaftlichen Diskurs, durch demokratisch fragwürdige Förderung, durch Grenzüberschreitungen in Informationshandeln und Medien.

 

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Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.