Kolumne
Klagen über Klagen

Nichts triggert die Justiz derzeit so sehr wie Massenverfahren. Klagewellen, befeuert von spezialisierten Anwaltskanzleien, legten Gerichte lahm, heißt es in Erklärungen und Brandbriefen. Richterinnen und Richter ächzten unter unzumutbarer Mehrarbeit. Man sei am Limit, hilflos gegenüber einer Klageindustrie.

16. Jun 2022

Dass Massenverfahren stark zugenommen haben und in großem Umfang Justizressourcen binden, ist unbestritten. Aber es schwingt immer so ein unterschwelliger Vorwurf mit, als handele es sich bei den Verfahren um etwas Unanständiges, dem man Einhalt gebieten müsse. Tatsächlich ist es doch so: Es gibt Verbraucherschutzvorschriften, deren Durchsetzung oft wirtschaftlich sinnlos ist. Erst durch massenhafte Geltendmachung mithilfe professioneller Klägeranwälte oder Legal Tech rechnet sich die Rechtsdurchsetzung. Die Verfahren führen also dazu, dass Gesetze wirken, etwa bei Fluggastrechten, beim Widerruf von Darlehensverträgen oder im Dieselskandal. Das mag Airlines, Banken und Autokonzerne ärgern. Die Rechtspflege sollte sich im Sinne eines funktionierenden Zugangs zum Recht hierüber freuen.

Justiz und Rechtspolitik überlegen gerade fieberhaft, wie man die Massenverfahren besser bewältigen könnte. Ständig arbeiten Expertengruppen neue Vorschläge aus, zuletzt Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Richterbunds und der sogenannten Präsidentenkonferenz (die Chefinnen und Chefs von BGH, BayObLG, KG und der OLG). Das Erfolgsrezept wird hauptsächlich darin gesehen, Befugnisse der Gerichte zulasten derer der Parteien auszuweiten. Eine grundsätzliche Verbesserung des kollektiven Rechtsschutzes durch eine effektive Bündelung der vielen Individualverfahren in Massenschadensfällen spielt keine Rolle. Entweder ist man nach Kapitalanlager-Musterverfahren und Musterfeststellungsklage schon hoffnungslos ernüchtert, oder die Furcht vor „Sammelklagen“ sitzt sehr tief.

Es kommt auch kein Vorschlagsrepertoire ohne den strukturierten Parteivortrag aus, den Anwältinnen und Anwälte nach den Vorgaben des Gerichts in eine nach der Relationstechnik aufgebaute Eingabemaske schreiben sollen. Die Justiz sieht ein zentrales Problem der Massenverfahren in Schriftsätzen, die aus unzähligen Textbausteinen wie am Fließband produziert werden und viel unnötigen Ballast jenseits des konkreten Falls beinhalten. Deshalb soll die Anwaltschaft etwas diszipliniert werden. Deren Begeisterung hält sich noch in Grenzen.

Die Landesjustizminister warteten jetzt auf ihrer Frühjahrskonferenz im bergidyllischen Hohenschwangau (Bayern hat derzeit den Vorsitz in der JuMiKo) mit einem neuen Vorschlag auf. Vor der malerischen Kulisse des Alpsees kam ihnen die Idee, in solchen Verfahren die Gebühren zu deckeln. Der Beschluss der Konferenz hierzu im Wortlaut: „Der aufgrund weitgehend deckungsgleicher Sachverhalte in großen Teilen identische Parteivortrag in Massenverfahren rechtfertigt es, Anpassungen der Rechtsanwaltsgebühren, wenn ein Prozessbevollmächtigter in einer Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren tätig wird, zu prüfen.“ 

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Tobias Freudenberg ist Rechtsanwalt und Schriftleiter der NJW, Frankfurt a. M..