NJW-Editorial
Klageindustrie?
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Foto_Michael_Heese_WEB
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Die Entwicklung und der Einsatz von Legal Tech haben eine Skalierung der Rechtsdurchsetzung möglich gemacht: Flightright, wenigermiete, Dieselskandal & Co. Für die Verwirklichung der Rechtsordnung in der rechtsgebundenen Gesellschaft ist ein Mehr an Rechtsdurchsetzung prinzipiell eine gute Nachricht. Allerdings werden Zivilgerichte hierdurch bundesweit mit massenhaft gleichgelagerten Individualklagen geflutet, die unter personellem Engpass und mit analogen Mitteln bewältigt werden müssen. Die Folgen sind Aktenberge, überlange Verfahren und eine zunehmend frustrierte Zivilrichterschaft.

25. Feb 2021

Die Verantwortung für diesen Zustand wird in erster Linie einigen Klägerkanzleien zugeschrieben, die Mandantenakquise im Internet mit teils unseriös taxierten Erfolgsaussichten betreiben würden. Deren Schriftsätze seien häufig mangelhaft und nicht auf den konkreten Einzelfall zugeschnitten. Auch wird es als anstößig empfunden, dass mit redundantem Vortrag volle Gebühren verdient werden. Nicht mehr nur auf Seiten der beklagten Unternehmen, sondern auch in Justizkreisen ist neuerdings von einer regelrechten „Klageindustrie“ die Rede (vgl. Steinert, SVR 2021, 41).

Dabei ist allzu schnell in Vergessenheit geraten, dass wir es in Deutschland traditionell eher mit einer „Beklagtenindustrie“ zu tun haben: Großkanzleien, die gegen hohe Stundensätze für zahlungskräftige Wirtschaftsunternehmen auftreten – und dabei nicht selten mit Erfolg massenhaft berechtigte Ansprüche abwehren. Im Dieselskandal wurde auch das auf die Spitze getrieben. Die Auszeichnung als Kanzlei des Jahres (Juve Award 2019) unter anderem für die „Abwehr der Diesel-Massenklagen für Volkswagen“ (gemeint waren die offensichtlich nach § 826 BGB begründeten EA 189-Fälle) mag als Beleg genügen.

Übertreibungen und Fehlentwicklungen lassen sich auf beiden Seiten nicht von der Hand weisen. Ihnen zu begegnen ist aber die Aufgabe des Berufsrechts (vgl. §§ 43, 43b BRAO). Und wer dann noch eine „Industrie“ am Werk sieht, der diskreditiert nicht nur ein legitimes Ersuchen um Rechtsschutz, sondern verwechselt Ursache und Wirkung: Die massenhaft gleichgelagerten Einzelklagen führen gegenwärtig nur deshalb zu einer Verschwendung staatlicher Ressourcen, weil der Gesetzgeber bei der Digitalisierung der Justiz hinterherhinkt und sich fortgesetzt gegen effektiven kollektiven Rechtsschutz sperrt. Gruppenverfahren müssen auch ohne Verbandsinitiative möglich sein, ebenso wie die nachträgliche Verbindung gleichgelagerter Einzelverfahren an einem Gerichtsstand. Kollektiver Rechtsschutz muss über eine bloße Haftungsfeststellung hinausgehen und für schlagkräftige Kanzleien auf beiden Seiten finanziell attraktiv sein. •

Prof. Dr. Michael Heese, LL.M. (Yale), ist Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.