Urteilsanalyse
Klärung der Prozessfähigkeit einer Partei
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Bei der Prozessfähigkeit handelt es sich um eine Sachurteilsvoraussetzung, die von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu klären ist. Bestehen begründete Zweifel an der Prozessfähigkeit einer Partei bzw. sind die zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten noch nicht erschöpft, darf nach der Rechtsprechung des BGH deshalb ein gegen sie gerichtetes Versäumnisurteil nicht ergehen.

12. Aug 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 16/2021 vom 06.08.2021

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Zivilverfahrensrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Zivilverfahrensrecht beinhaltet er eine ergänzende Leitsatzübersicht. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Zivilverfahrensrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte und deren Ehemann auf Schadensersatz wegen Verlusten aus vom Ehemann der Beklagten für die Klägerin getätigten Anlagegeschäften, hilfsweise auf Rückerstattung eines als Darlehen gewährten Geldbetrags in Anspruch. Das LG hat den Ehemann der Beklagten (rechtskräftig) nach dem Hilfsantrag verurteilt und die Klage gegen die Beklagte, deren Rolle bei den Geschäften ihres Ehemanns streitig ist, abgewiesen. Dagegen hat die Klägerin Berufung mit dem Ziel einer gesamtschuldnerischen Verurteilung auch der Beklagten eingelegt.

Im Berufungsverfahren hat die Beklagte ua ihre Prozessunfähigkeit geltend gemacht und sich hierfür auf ärztliche Atteste und ein im parallel gegen sie und ihren Ehemann geführten Strafverfahren eingeholtes amtsärztliches Gutachten berufen, wonach sie sich wegen einer rezidivierenden depressiven Störung seit vielen Jahren in – teilweise stationärer oder teilstationärer – psychiatrischer Behandlung befand und ihr insoweit bis auf weiteres Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt worden war. Nach Wiederaufnahme des wegen des Strafprozesses ausgesetzten Verfahrens hat das Berufungsgericht daher ein Gutachten über die Prozessfähigkeit der Beklagten in Auftrag gegeben. Ihre persönliche Exploration hat die Beklagte jedoch zunächst mit der Begründung verweigert, ihr bereits drei Jahre zuvor gestellter Pkh-Antrag sei noch nicht beschieden worden, und sie sei außerstande, die Kosten zu tragen. In der Folge ist ein Gutachten nach Aktenlage erstellt worden, auf deren Grundlage sich die Prozessunfähigkeit der Beklagten nicht hat feststellen lassen; ob eine persönliche Untersuchung und die Auswertung sämtlicher (teils nicht vorliegender) Krankenunterlagen bzw. Vorbefunde ein anderes Ergebnis rechtfertigen würden, hat der Sachverständige offengelassen. Nach Eingang des Gutachtens hat sich die Beklagte – der schließlich Pkh gewährt worden war – doch noch bereit erklärt, sich explorieren zu lassen, wozu es jedoch nicht mehr gekommen ist.

Nachdem im Termin zur mündlichen Verhandlung über die Berufung für die Beklagte niemand erschienen ist, ist gegen sie ein (erstes) Versäumnisurteil ergangen, mit dem sie neben ihrem Ehemann ebenfalls zur Zahlung verurteilt worden ist. Dagegen hat die Beklagte (rechtzeitig) Einspruch eingelegt. Zum Termin zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache ist für die Beklagte wiederum niemand erschienen, woraufhin ein zweites Versäumnisurteil ergangen ist.

Entscheidung

Auf die (gegen ein zweites Versäumnisurteil ohne Zulassung und ohne Rücksicht auf die Höhe der Beschwer statthafte, vgl. hierzu Toussaint FD-ZVR 2020, 431834 mwN) Revision der Beklagten hat der BGH das zweite Versäumnisurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Berufung auf fehlende Prozessfähigkeit steht Zulässigkeit der Revision nicht entgegen

Dass sich die Beklagte auf ihre (möglicherweise) fehlende Prozessfähigkeit berufe, stehe der Zulässigkeit der Revision nicht entgegen, denn das Rechtsmittel einer Partei, die sich dagegen wende, von der Vorinstanz zu Unrecht entweder als prozessfähig oder als prozessunfähig behandelt worden zu sein, sei ohne Rücksicht darauf zulässig, ob die für die Prozessfähigkeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden können, und die potentiell prozessunfähige Partei könne auch bis zur abschließenden Klärung dieser Frage materiell-rechtlich wirksam Prozessvollmacht erteilen.

Berufungsgericht hat zur Verfügung stehende Erkenntnisquellen zur Klärung der Prozessfähigkeit nicht ausgeschöpft

Die Revision sei auch begründet, denn das gegen die Beklagte gerichtete zweite Versäumnisurteil habe nach dem damaligen Verfahrensstand nicht erlassen werden dürfen und sei daher nicht in gesetzlicher Weise ergangen. Bevor die Frage der Prozessfähigkeit der Parteien als zwingende und unverzichtbare Prozessvoraussetzung nicht geklärt sei, dürfe eine Sachentscheidung nicht ergehen und mithin auch kein Versäumnisurteil erlassen werden. Im Zeitpunkt des Erlasses des zweiten Versäumnisurteils sei aber – ebenso wie bei Beauftragung ihrer (zuletzt tätig gewesenen) Prozessbevollmächtigten – eine Prozessunfähigkeit der Beklagten nicht auszuschließen gewesen. Zwar habe das Berufungsgericht wegen der von ihm zutreffend erkannten konkreten Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit ein Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen eingeholt. Auf der Grundlage der daraus zu gewinnenden Erkenntnisse habe das Berufungsgericht aber nicht von der Prozessfähigkeit der Beklagten ausgehen können, weil der Sachverständige ein anderes Ergebnis nach einer – zunächst im Hinblick auf das damit verbundene (Weitere) Kostenrisiko aus nachvollziehbarem Grund verweigerten – persönlichen Untersuchung und Auswertung weiterer Unterlagen nicht ausgeschlossen habe. Nach der (rückwirkenden) Bewilligung von (notwendiger, § 119 ZPO) Pkh habe die Beklagte ihre Bereitschaft zur Exploration durch den Sachverständigen angezeigt, womit nunmehr eine weitere Erkenntnisquelle zur Beurteilung der Prozessfähigkeit der Beklagten zur Verfügung gestanden habe und das OLG eine Ergänzung des Gutachtens hätte veranlassen müssen.

Praxishinweis

1. Liegen die in den §§ 335, 337 ZPO genannten Umstände vor, ist trotz Nichterscheinens bzw. Nichtverhandelns einer Partei im Termin eine Versäumnis im Rechtssinne zu verneinen; einem Antrag auf Erlass des Versäumnisurteils bzw. einer Entscheidung nach Lage der Akten darf daher nicht entsprochen werden, vielmehr ist die Sache zu vertagen bzw. ein gleichwohl gestellter Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils bzw. einer Entscheidung nach Lage der Akten zurückzuweisen (letzteres ist bei § 337 ZPO str.). Nach § 335 I Nr. 1 ZPO liegt ein solcher Fall vor, wenn die erschienene Partei die vom Gericht wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Umstands erforderte Nachweisung nicht zu beschaffen vermag. Ein solcher (in jeder Verfahrenslage und in jedem Rechtszug) von Amts wegen zu berücksichtigender Umstand ist die Prozessfähigkeit der Parteien als Prozessvoraussetzung. Solange an ihr Zweifel bestehen, darf keine Sachentscheidung und damit auch kein Versäumnisurteil ergehen. Ein gleichwohl erlassenes Versäumnisurteil ist zwar wirksam, aber (auch wenn die Umstände, die dem Erlass eines Versäumnisurteils entgegenstehen, nicht bekannt waren) nicht iSv §§ 344, 729 I 2 ZPO in gesetzlicher Weise ergangen. Ein gleichwohl erlassenes zweites Versäumnisurteil iSd § 345 ZPO kann Fehlens einer Versäumnis (im Rechtssinne) nach § 514 II ZPO (ggf. iVm § 565 ZPO) mit der Berufung bzw. der Revision angefochten werden.

2. In den „Segelanweisungen" der besprochenen Entscheidung hat der BGH iÜ darauf hingewiesen, dass nach Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse hinreichende Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit Zweifel an der Prozessfähigkeit verbleiben, diese nicht bejaht werden kann; insbes. findet im Prozessrecht die materiellrechtlich für § 104 Nr. 2 BGB geltende Beweislastverteilung im Prozessrecht keine Anwendung (Zweifel gehen mithin stehts zu Lasten der ein Sachurteil erstrebenden Partei). Bei verbleibenden Zweifeln an der Prozessfähigkeit einer Partei muss den Parteien daher Gelegenheit gegeben werden, für eine ordnungsgemäße Vertretung (zB im Wege der Betreuung) der Partei, deren Parteifähigkeit zweifelhaft ist, zu sorgen oder ihr entspr. § 57 ZPO einen Prozesspfleger zu bestellen. Für den Streit über die Prozessfähigkeit ist die davon betroffene Partei aber in jedem Fall als prozessfähig anzusehen, so dass insbes. ihr Rechtsmittel nicht wegen fehlender Prozessfähigkeit unzulässig ist.

BGH, Urteil vom 08.07.2021 - III ZR 344/20, BeckRS 2021, 20203