Urteilsanalyse
Keine wirksame Zustellung bei unwirksamer Zustellungsvollmacht
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Lässt sich die Freiwilligkeit der Vollmachtserteilung nicht feststellen und sind die Voraussetzungen für das Vorliegen von Gefahr im Verzug nicht gegeben, liegt nach dem Landgericht Freiburg keine wirksame Zustellungsvollmacht i.S.d. § 132 StPO vor.

5. Nov 2021

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 22/2021 vom 04.11.2021

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Sachverhalt

Der schweizerische Staatsangehörige S soll am 22.10.2020 gemeinsam mit einer unbekannten Person in den Räumen eines Unternehmens in Deutschland einem Mitarbeiter einen Schlag ins Gesicht versetzt haben. Die daraufhin alarmierten Streifenbeamten belehrten S vor Ort in französischer Sprache als Beschuldigten und erhoben bei ihm formularmäßig eine Zustellungsvollmacht ebenfalls in französischer Sprache, in der die am örtlichen AG beschäftigte D als Zustellungsbevollmächtigte benannt wurde. Am 13.11.2020 erließ das AG gegen S einen Strafbefehl wegen gefährlicher Körperverletzung und setzte eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50,00 EUR fest. Der übersetzte Strafbefehl wurde gegen Empfangsbekenntnis Frau D gem. § 37 StPO i.V.m. § 174 ZPO am 30.11.2020 zugestellt. Mit E-Mail vom 25.12.2020 und Schreiben vom 6.1.2021, eingegangen beim AG am 18.1.2021, wandte sich S gegen den Strafbefehl. Am 2.2.2021 wies das AG ihn auf den Ablauf der Einspruchsfrist und die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hin. Eine Stellungnahme erfolgte binnen der vom AG bis 1.3.2021 gesetzten Frist nicht.

Durch Beschluss vom 16.3.2021 verwarf das AG den Einspruch gegen den Strafbefehl sodann als unzulässig. Gegen diesen Beschluss, der D am 6.4.2021 zugestellt wurde, richtet sich das beim AG am 21.4.2021 eingegangene und als sofortige Beschwerde zu behandelnde Schreiben des S vom 13.4.2021.

Das LG holte daraufhin eine Stellungnahme des sachbearbeitenden Polizeibeamten zu den näheren Umständen der Erhebung der Zustellungsvollmacht ein. Dieser teilte mit, dass S dringend tatverdächtig gewesen sei, eine Körperverletzung begangen zu haben, er aber keine angemessene Sicherheit leisten konnte. Zur Entlastung der Bereitschaftsdienste und für eine bessere Akzeptanz bei S sei daraufhin – trotz eine gesicherten Wohnanschrift – eine formularmäßige und von S unterzeichnete Zustellungsvollmacht erhoben worden. Zudem sei S der Sinngehalt der Zustellungsvollmacht in vereinfachter deutscher Sprache sowie durch einen unbekannten Dritten in seiner Muttersprache erläutert worden.

Entscheidung

Das LG sah die sofortige Beschwerde gegen den Verwerfungsbeschluss als zulässig und begründet an. Insb. sei sie nicht verfristet, weil mangels wirksamer Zustellung keine Fristen in Gang gesetzt worden seien. Die Vollmacht, in der D als Zustellungsbevollmächtigte benannt wurde, sei unwirksam. Zwar sei eine Zustellung auch im Strafverfahren an Personen möglich, denen eine rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht erteilt wurde. Voraussetzung für eine wirksame Bevollmächtigung in solchen Fällen sei allerdings u.a., dass sich zweifelsfrei ergebe, dass die Vollmachtserteilung freiwillig erfolgt sei. Die formularmäßige Behandlung des S lege eine freiwillige Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten hingegen nicht nahe. Auch aus der Stellungnahme des Polizeibeamten ergebe sich nicht, auf welche Weise S über die Freiwilligkeit der Erteilung aufgeklärt wurde, sondern lediglich, dass ihm der Sinn einer Zustellungsvollmacht erklärt wurde. Da sich auch aus den sonstigen Umständen die Freiwilligkeit der Vollmachtserteilung nicht feststellen lasse und zudem die Voraussetzungen für das Vorliegen von Gefahr im Verzug offensichtlich nicht gegeben seien, liege keine wirksame Zustellungsvollmacht vor; die Zustellung des Beschlusses vom 16.3.2021 sei deswegen unwirksam. Gleiches gelte für die Zustellung des Strafbefehls vom 13.11.2020 an D, sodass die Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl nicht zu laufen begonnen habe. Dass dieser Zustellungsmangel durch tatsächliche Kenntnisnahme des S von dem Strafbefehl gem. § 189 ZPO geheilt worden wäre, sei nicht nachgewiesen.

Praxishinweis

§ 132 StPO soll die Durchführung des Strafverfahrens, sowie die Vollstreckung von (Geld-)Strafen gegen Beschuldigte sicherstellen, die keinen festen Wohnsitz in Deutschland haben. Hierfür kann gem. § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO die Bevollmächtigung eines Zustellungsempfängers angeordnet werden. Diese Regelung ist allerdings, insb. bei der Zustellung eines Strafbefehls, mit europarechtlichen Bestimmungen und dem dort vorherrschenden Diskriminierungsverbot nicht in Einklang zu bringen (kritisch auch SSW-StPO/Satzger, § 132 Rn. 2). Denn bei der Weiterleitung eines Strafbefehls an den Beschuldigten nach der Zustellung über einen Bevollmächtigten bestehen erhebliche Unwägbarkeiten, die die Wirksamkeit der Zustellung aber nicht beeinträchtigen sollen. Der im Ausland wohnhafte Beschuldigte hat es nicht in der Hand, ob, wann, wohin und wie die Weiterleitung tatsächlich erfolgt. Der Zustellungsbevollmächtigte ist gesetzlich nicht verpflichtet, die Weiterleitung des Strafbefehls in einer Weise vorzunehmen, die sicherstellt, dass der Strafbefehl den Beschuldigten auch tatsächlich erreicht. Dass die Weiterleitung eines Strafbefehls ins Ausland erheblich länger dauern kann und eine größere Gefahr des Abhandenkommens des Strafbefehls besteht, liegt ebenso auf der Hand. Unter diesen Umständen ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass der Beschuldigte erst lange nach Eintritt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung oder überhaupt nicht Kenntnis von ihr erlangt (instruktiv AG Kehl, EuGH-Vorlage v. 14.9.2018 – 2 Cs 505 Js 116/18 (2)).

Da der EuGH diese Kritik im Kern teilt (zuletzt etwa Urt. v. 14. Mai 2020 – C 615/18), schlug der Gesetzgeber Anfang 2021 eine Änderung von § 132 StPO dergestalt vor, dass auf Beschuldigte, die in einem Staat im Schengen-Raum einen festen Wohnsitz oder Aufenthalt haben, das Regelungsregime des Zustellungsbevollmächtigten keine Anwendung mehr finden soll (Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften, S. 40, 89 ff.). Nach alarmistisch anmutenden Stellungnahmen aus der staatsanwaltschaftlichen Praxis (beabsichtigte Änderung würde „die ordnungsgemäße Durchführung nahezu jedes Ermittlungsverfahrens gegen Beschuldigte ohne festen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland torpedieren“) und mit Hinweis auf eine noch nicht hinreichend fortgeschrittene europäische Harmonisierung des Ausweis- und Meldewesens, verwarf der Gesetzgeber die beabsichtigte Einschränkung des personellen Anwendungsbereichs wieder. Somit ist es nun weiterhin den Gerichten überlassen, mit den Auslegungs- und Anwendungsproblemen von § 132 StPO umzugehen. Dabei greifen sie, wie auch die vorliegende Entscheidung des LG Freiburg zeigt, mitunter zu fragwürdigen Begründungsansätzen.

Nachdem das Gericht hier zu Recht keine von S freiwillig erteilte rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erkennen konnte, ging es auf die in § 132 Abs. 1 Nr. 2 StPO normierte Pflicht zur Bevollmächtigung zum Empfang von Zustellungen nur insofern ein, als es feststellte: „Da auch die Voraussetzungen für das Vorliegen von Gefahr im Verzug offensichtlich nicht vorliegen, liegt mithin keine wirksame Zustellungsvollmacht vor“. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil sich die Rspr. bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs in der Vergangenheit zumeist deutlich großzügiger, sprich strafverfolgungsfreundlicher, zeigte und gerade im Zusammenhang mit § 132 StPO gemeinhin davon ausgegangen wird, dass die Einschaltung des Richters in praxi die Ausnahme bildet, weil regelmäßig Gefahr im Verzug gegeben ist (KK-StPO/Schultheis, § 132 Rn. 7). Aber selbst wenn, wie hier vom LG Freiburg ohne nähere Begründung, das Vorliegen von Gefahr im Verzug verneint wird, wäre die Anordnung gem. § 132 Abs. 1 Nr. 2 StPO wohl nur dann unzulässig, wenn die Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft den Richtervorbehalt bewusst oder willkürlich umgegangen hätte (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 98 Rn. 7 mwN). Ein derartiges Verhalten der Polizeibeamten lässt sich jedenfalls aus deren Stellungnahme aber kaum ableiten. Deshalb spricht wenig für eine Unwirksamkeit der Zustellungsvollmacht für die am AG beschäftigte Frau D (s. aber auch LG Berlin, NStZ 2012, 334). Dass ändert freilich nichts daran, dass die Regelung des § 132 StPO de lege lata mit EU-Recht konfligiert (s.o. sowie LR-StPO/Gleß, § 132 Rn. 6). Deswegen muss einstweilen durch europarechtskonforme Auslegung sichergestellt werden, dass im EU-Ausland (aber nicht, wie vorliegend wohl S, in der Schweiz) lebende Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist von zwei Wochen für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügen (näher Brodowski, StV 2016, 210 f.).

LG Freiburg, Beschluss vom 06.09.2021 - 16 Qs 27/21 (AG Lörrach), BeckRS 2021, 29664