Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Florian Plagemann, LL.M. (Cornell), CMS Hasche Sigle, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 16/2020 vom 28.08.2020
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Sachverhalt
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung, der Antragsgegnerin aufzugeben, die von ihr betriebene Rehaeinrichtung vorläufig zu schließen. Die Antragstellerin betreibt eine Rehabilitationseinrichtung nach § 40 SGB V. Zu den Leistungen gehören vor allem die ambulante Rehabilitation, Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Sie hat mit den Kostenträgern einen Versorgungsvertrag gem. § 111c SGB V abgeschlossen. Von der Antragsgegnerin – Landeshauptstadt Dresden – verlangt sie eine Schließungsverfügung gem. § 16 IFSG. In der Einrichtung bestünden erhebliche Risikofaktoren hinsichtlich einer Infektion mit dem Coronavirus. Beschäftigt seien ca. 50 Mitarbeiter; pro Woche würden ca. 800 Patienten behandelt, welche überwiegend älter als 55 Jahre und multimorbid sind. Manche Patienten suchten die Einrichtung für einzelne konkrete Therapieeinheiten auf. Andere kämen an 5 Tagen die Woche. Sie müssten mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Zu Stoßzeiten komme es unvermeidbar u.a. im Bereich der Rezeption, der Umkleidekabinen sowie im Eingangsbereich zu engen Kontakten. Die Patienten würden auf der Einlösung der Verordnungen bestehen. Diese stammen vorwiegend noch aus der vorpandemischen Zeit.
Die Antragstellerin sei rechtlich an der Schließung gehindert, weshalb es einer Anordnung der Antragsgegnerin bedürfe. Diese lehnt ab: Die Antragstellerin könne selbst ihre Einrichtung, die zur kritischen Infrastruktur zähle, schließen. Der Versorgungsvertrag hindere sie hieran nicht. Sofern die Leistungserbringung aufgrund der erforderlichen Schutz- und Hygienemaßnahmen nicht in vertraglich vorgeschriebenem Umfang erfolgen könne, erfolge eine Befreiung von der Leistungspflicht i.S.v. § 275 BGB.
Entscheidung
Das VG weist den Antrag als unzulässig ab. Es fehle am Rechtsschutzbedürfnis. Das Erfordernis einer behördlichen Schließungsanordnung ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus der Allgemeinverfügung betreffend die Maßnahmen anlässlich der Corona Pandemie. Dem SGB V lässt sich nicht entnehmen, dass es ambulanten Rehaeinrichtungen untersagt ist, ohne behördliche Anordnung zu schließen. Aus dem Gesetz ergebe sich keine Verpflichtung, die Einrichtung zwingend offenzuhalten. Die Antragstellerin sei nicht gehindert, den Betrieb der Einrichtung aus eigenem Entschluss einzustellen.
Auch aus dem Sicherstellungsauftrag nach §§ 72 ff. SGB V ergibt sich keine Verpflichtung für die Antragstellerin, ihre Einrichtung zwingend offenzuhalten. Der Sicherstellungsauftrag obliegt den Krankenkassen. Aus der aktuell gültigen Allgemeinverfügung vom 31.03.2020 ergibt sich ebenfalls nicht, dass die Antragstellerin verpflichtet ist, ihre Einrichtung so lange offenzuhalten, bis eine behördliche Schließung erfolgt. Demnach sind öffentliche und nicht öffentliche Veranstaltungen, bei denen es zu einer Begegnung von Menschen kommt, untersagt, mit Ausnahme von Veranstaltungen, die der Gesundheitsfürsorge der Bevölkerung dienen. Auch aus dem Versorgungsvertrag ergibt sich nicht, dass die Antragstellerin aufgrund vertraglicher Regelungen gehindert ist, ihre Einrichtung zu schließen. Zwar ist die Antragstellerin nach dem Versorgungsvertrag verpflichtet, 30 Plätze für bestimmte Indikationen vorzuhalten. Eine ausdrückliche Untersagung einer Betriebsschließung findet sich aber im Vertrag nicht. Als Betriebsinhaberin entscheidet die Antragstellerin auch über die wesentliche Betriebsorganisation selbständig. Dies gilt auch für die grundsätzliche Entscheidung, die Einrichtung zu betreiben.
Praxishinweis
1. § 16 IFSG ist wegen der Corona Pandemie durch Gesetz vom 19.05.2020 (BGBl I, 1018) neu gefasst worden. Nach dieser Bestimmung ist es den zuständigen Behörden bzw. den Gesundheitsämtern gestattet, „die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit“ drohenden Gefahren aufgrund einer übertragbaren Krankheit zu treffen. Die Antragstellerin weist zutreffend darauf hin, dass der Versorgungsvertrag ihr auch die Pflicht auferlegt, Reha-Leistungen anzubieten und zu erbringen. Wegen dieses Versorgungsauftrags hat das OVG Weimar die wegen der Pandemie angeordnete Untersagung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für rechtswidrig erklärt: die Untersagung der Eingliederungshilfe sei in dieser Situation weder angemessen noch verhältnismäßig im Hinblick auf die Zielrichtung, durch Kontaktbeschränkungen Infektionen zu verhindern (OVG Weimar, BeckRS 2020, 10619). Das BSG hat ausführlich begründet, dass Vertragsärztinnen und Vertragsärzte wegen des Versorgungsauftrags kein Recht zum „Streik“ haben (BSG, BeckRS 2016, 119092, Hinweis auf die Pflicht gem. § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV Sprechstunden abzuhalten; bestätigt durch Nichtannahmebeschluss des BVerfG, BeckRS 2019, 28231). Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, am Notdienst teilzunehmen, vgl. u.a. § 75 Abs. 1b SGB V.
2. Unterstellt, die Reha-Einrichtung hat – gemäß der Empfehlung des VG – im April den Betrieb eingestellt, müssen die Beschäftigten in Kurzarbeit geschickt werden. Die Einrichtung hätte sich dann im Übrigen um eine Corona-Beihilfe bemühen müssen, die aber nur dann gezahlt wurde, wenn wegen der Corona-Pandemie Umsätze ausgefallen sind. Das nachzuweisen ist im Gesundheitsdienst nicht einfach.
3. Erlässt dagegen die Stadt die von der Reha-Einrichtung verlangte Schließungs-Verfügung, kommen Ansprüche auf Entschädigungen gem. § 65 IFSG in Betracht (vgl. dazu auch: Koehl, in: Kroiß (Hrsg.) Rechtsprobleme durch COVID-19 in der anwaltlichen Praxis, 2020, § 13; Rn. 47 ff.).
VG Dresden, Beschluss vom 01.04.2020 - 6 L 224/20, BeckRS 2020, 5156